Ein abgelenkter Lyrikverführer

ABSCHWEIFUNGEN Die Glut dieser Zeilen: Der große Autor Nicholson Baker schreibt einen Roman über Gedichte

Dieser Fisch ist Lyrik, wie Baker sie versteht: Man ergreift den Moment und lässt los

VON JÖRG MAGENAU

Ein Buch über Versmaß und amerikanische Lyrik gehört womöglich nicht unbedingt zu den ganz großen Favoriten der Unterhaltungserwartungsimpulskäufer. Das ist ein Fehler. Denn dieses Buch, in dem ein gewisser Paul Chowder verspricht, alles mitzuteilen, was er über Poesie weiß, ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch noch klug, witzig und lehrreich. Es handelt sich dabei auch nicht, wie zu befürchten wäre, um eine Poetikvorlesung, sondern um einen Roman. Ein Roman über Lyrik also. Geht das? Na klar. Denn Poesie ist, Lektion eins, nichts anderes als „Prosa in Zeitlupe“. Ausgenommen natürlich Gedichte, die sich reimen. Wobei das schon eine der zentralen Fragen des Buches ist: Müssen Gedichte sich reimen und wenn ja, warum nicht?

Nicholson Baker hat mit seinen Romanen „Fermate“ (wo ein Mann mit einem Fingerschnipsen die Zeit anhalten konnte) oder „Vox“ (wo zwei Menschen miteinander telefonieren) Literaturgeschichte geschrieben. Seine Essays handeln von so ausgefallen alltäglichen Dingen wie Rolltreppen oder den Streifen auf der Zahnpasta oder aber der amerikanischen Zeitungsberichterstattung während des Zweiten Weltkriegs (wie in seinem zuletzt erschienenen, heftig debattierten Buch „Menschenrauch“). Skurrilität, Penibilität, Sammelwut und Detailversessenheit sind Eigenschaften, die Baker so zärtlich kultiviert, dass sie seine Texte zu liebenswerten Gebilden machen. Seine Lust an den Oberflächen führt ihn zuverlässig in die Tiefe der Dinge.

Das gilt auch für seine Romanfigur Paul Chowder, einen Lyriker, der schon einige Verse im New Yorker publizieren durfte, der aber sehr wohl weiß, dass er zu den 100 bis 150 Mittelbegabten dieses Metiers gehört, die zu Recht bald wieder vergessen sein werden. Chowder ist folglich damit beschäftigt, eine Lyrik-Anthologie zusammenzustellen, und muss dafür ein 40 Seiten umfassendes Vorwort schreiben, was ihm nicht gelingen will. Er sitzt gerne auf einem dieser in der Welt millionenfach vorhandenen weißen Plastikstühle vor seiner Scheune, irgendwo auf dem Land in Massachusetts, und wartet auf Eingebung. Rosslyn, die Frau, mit der er acht Jahre zusammenlebte, hat ihn verlassen, weil sie seine Untätigkeit nicht länger ertrug. Er versteht das, versucht aber doch, sie zurückzugewinnen, indem er sich gleich mehrfach den Finger verletzt und bei ihr anruft, damit sie kommt und ihn rettet.

Es gibt also für alle, die das brauchen, auch so eine Art Handlung. Kriegen sie sich am Ende wieder? Oder hat er was mit der Nachbarin, deren Rasenmäher er repariert? Paul Chowder lenkt sich ab, wo er nur kann. Er beobachtet die Maus in seiner Küche, kauft einen neuen Besen oder sitzt in seinem Plastikstuhl unten am Bach und verzehrt ein Hühnchen. Die konzentrierte Abschweifung, die eine Nebensache zur Hauptsache macht, ist sein Prinzip, und damit ist bereits etwas über Poesie gesagt: Schluss mit schwierigen Gedichten, die man nicht versteht! Das Schreiben, so wie Paul Chowder es lehrt, ist eher wie die Komposition eines kleinen Salats: „Zum krönenden Abschluss muss genau die richtige Menge Sprossen drauf, vielleicht auch die eine oder andere Kichererbse. Kein Bacon.“

Chowder alias Baker entfaltet eine Verslehre der Simplizität, die auf nichts als Rhythmus beruht. Jambus, Trochäus und all die schwergewichtigen Lusttöter aus dem Griechischen darf man getrost vergessen, wenn man sich klargemacht hat, dass Gedichte wie Popsongs einen Takt haben. Meist ist es ein Viervierteltakt. Und wenn ein Vers aus nur drei Hebungen besteht, ist die vierte eine Pause. Das ist Chowders Entdeckung und Chowders Doktrin. Das buchstabiert er durch und singt dazu selbsterfundene Melodien. Zugleich unternimmt er eine Expedition durch die amerikanische Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Da haben wir hierzulande Wissensnachholbedarf. Oder wer kennt sich aus mit Autoren wie Louise Bogan, Theodor Roethke, W. S. Merwin oder Vachel Lindsay? Bei Baker erfährt man etwas über ihr Leben, ihren Tod, ihre Leidenschaften und ihre Gedichte, natürlich. Die Anthologie des „Anthologisten“ entsteht im Erzählen und nur dort.

Mit den Flossen schlagen

Das Gedicht „Der Fisch“ von Elizabeth Bishop ist vielleicht gerade noch bekannt, aber so, wie Baker darüber spricht, fängt es an mit den Flossen zu schlagen: Der gewaltige Fisch, den Bishop darin an der Angel hat, wird ganz genau beschrieben. Er rollt sogar mit seinen abgeflachten Fischaugen. Und je mehr man, weil es ein sehr langes Gedicht ist, Angst haben muss, dass der Fisch, während er beschrieben wird, in der Luft erstickt, je sadistischer die Poetik-Entfaltung also ist, umso größer ist die Spannung. Am Schluss lässt Bishop ihn mit einem Platsch los. Der Fisch entkommt. Dieser Fisch ist Lyrik, wie Baker sie versteht: „Man ergreift den Moment, man bemüht sich nach Kräften, ihn zu beschreiben, man ist gefesselt, und dann, wenn man sich alle Mühe gegeben hat, ihn für andere auf eine gedruckte Seite zu bannen, dann lässt man ihn los.“

So und nicht anders lebt und schreibt Paul Chowder. Logisch, dass seine Einleitung nicht fertig wird und auch die letzte Auswahl der Gedichte nicht gelingt. Stattdessen aber entsteht schließlich, wenn eigentlich alles längst zu spät ist, in drei Tagen am Küchentisch dieses Buch. Und auf dem Rückflug von einem Lyrikertreffen in der Schweiz (könnte es etwas Absurderes geben?) schreibt Chowder 23 Gedichte. Dabei weiß er, dass es schon viel zu viele Gedichte gibt auf Erden. Ein, zwei Jahre Pause für alle Lyriker wäre ein Segen! Andererseits, was soll man machen, wenn Dichten wie Kettenrauchen ist: „Man steckt die nächste Zeile an der Glut der vorigen an.“

Doch warum gibt es so viele Gedichte über den Tod, wo der Tod doch nur „ein kleiner Teil des Lebens ist und nicht unbedingt der, an den man dauernd denken will?“ Und warum machen wir Leser, die wir bei jedem Prosatext wissen wollen, ob er „wahr“ oder „fiktiv“ oder gar „autobiografisch“ ist, diese Unterscheidung nie bei Gedichten? Warum gibt es keine Trennung in Sach-Lyrik und Belletristik-Lyrik? Das sind so Fragen!

In Chowder steckt übrigens jede Menge Baker. Denn nur Baker schreibt Sätze wie diese: „Was, wenn Rosslyn mich irgendwann tatsächlich wieder ihre Brüste umschließen ließe? Wäre das nicht einfach unglaublich? Eine weiche, wohlvertraute Handvoll Verletzlichkeit – und ich darf sie halten? Einfach irre. Unvorstellbar.“ Selbst die allerletzte Frage: Reimen oder nicht reimen, wird da endlich beantwortet. Rosslyns Brüste reimen sich, ist doch klar. Warum sollte das für Poesie also nicht auch gelten?

Nicholson Baker: „Der Anthologist“. Aus dem Amerikanischen von Matthias Göritz und Uda Strätling. C. H. Beck, München 2010, 256 S.,

19,95 Euro