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Archiv-Artikel

Das Comeback des Thalidomid

Ende der 50er-Jahre verursachte der Contergan-Wirkstoff Thalidomid bei tausenden von Neugeborenen Fehlbildungen – viele starben. Doch trotz dieser katastrophalen Nebenwirkung wird das Arzneimittel Thalidomid heute wieder verschrieben

„Thalidomid ist für viele Myelom-Patienten schließlich eine letzte Hoffnung“

VON KARL HÜBNER

Das Schlafmittel Contergan, das Ende der 50er-Jahre einen der spektakulärsten Arzneimittelskandale auslöste, war längst vom Markt verschwunden, da hielt es ein Jerusalemer Arzt für das letzte Mittel, um einen leprakranken Patienten, der vor Schmerzen seit Tagen nicht einschlafen konnte, zu beruhigen. Der Leprakranke litt an einem so genannten Erythema nodosum leprosum (ENL), einer entzündlichen Leprakomplikation. Am nächsten Tag hatte der Patient nicht nur gut geschlafen; zugleich hatten die Schmerzen nachgelassen, und zum ersten Mal seit Wochen konnte er von allein aus dem Bett aufstehen.

Später bestätigte sich in klinischen Studien in der Tat eine Wirksamkeit des Contergan-Wirkstoffs Thalidomid bei einem Großteil von Leprakranken. 1998 erteilte die US-Gesundheitsbehörde dem Wirkstoff eine Zulassung zur Behandlung von Leprapatienten mit ENL.

Das sollte nur der Auftakt zur Wiederkehr einer Substanz sein, deren Ruf durch die einstige Tragödie endgültig ruiniert schien. Statt Hiobsbotschaften sorgte Thalidomid in jüngster Vergangenheit für immer mehr gute Nachrichten. So kommen bei einer Reihe von Autoimmunerkrankungen offensichtlich dieselben Effekte zum Tragen wie auch bei der eingangs genannten ENL-Therapie. Wie man heute weiß, senkt Thalidomid nämlich die Menge des so genannten Tumornekrosefaktors Alpha (TNF-Alpha), der eine wichtige Rolle im Immunsystem spielt. Wie bei ENL-Patienten, so wird TNF-Alpha auch bei entzündlichen Krankheiten wie Morbus Crohn, Multipler Sklerose oder auch bei rheumatischer Arthritis vermehrt gebildet. Auch hier könnte Thalidomid also helfen. Als erfolgreich erwies sich Thalidomid bereits bei der Behandlung der bei Aids-Kranken typischen Mundgeschwüre.

Paradoxerweise ist die für die ursprüngliche Karriere verantwortliche Wirkung als Beruhigungsmittel bei allen neuen Indikationen eine unerwünschte Nebenwirkung. Thalidomid wird daher in der Regel in den Abendstunden verabreicht.

Interessanterweise verhilft der Substanz offenbar ausgerechnet die einst für die Fehlbildungen verantwortliche Eigenschaft zu einer dritten Karriere. Thalidomid stört die Bildung von Blutgefäßen. Was bei den Föten zu Fehlbildungen führte, macht man sich heute zunutze, um Krebsgeschwüre zu bekämpfen. Denn auch Tumoren sichern sich ihr Überleben unter anderem durch die Neuanlage von Blutgefäßen, über die sie dann die für ihre Zellen notwendigen Nährstoffe erhalten.

Bei einigen Krebsarten wurde eine positive Wirkung von Thalidomid bereits festgestellt. Etwa beim multiplen Myelom, einem aggressiven und bisher nicht heilbaren Knochenmarkkrebs. In Studien verlängerte Thalidomid zumindest bei einem Drittel der Behandelten die so genannte rückfallfreie Überlebenszeit – und gehört damit zu den bei diesem Krebs wirksamsten Mitteln. Bei Kombination mit weiteren Präparaten sprechen sogar bis zu 70 Prozent der Patienten an. Australien, Neuseeland, die Türkei und Israel haben Thalidomid inzwischen für die Behandlung des multiplen Myeloms in solchen Fällen zugelassen, in denen Standard-Chemotherapien nicht mehr greifen.

In Deutschland erkranken jährlich etwa 4.000 Menschen an einem multiplen Myelom. Und auch hierzulande werden viele von ihnen mit Thalidomid behandelt. Allerdings ist das nicht ganz einfach. „Weil es derzeit in der gesamten EU keine behördliche Zulassung gibt, ist der legale Einsatz nur unter Einhaltung sehr strenger Regeln zulässig“, erklärt Thomas Möhler, der als Oberarzt an der Medizinischen Klinik V der Universität Heidelberg auch Patienten mit Knochenmarkkrebs behandelt.

So darf Thalidomid beispielsweise nur an besonders spezialisierten Kliniken eingesetzt werden. Hinzu kommt eine strenge Überwachung während der Therapie. Im Hinblick auf die möglichen Fehlentwicklungen bei Embryonen müssen sich weibliche Patienten im gebärfähigen Alter während der Thalidomid-Behandlung monatlichen Schwangerschaftstests unterziehen. Männliche Patienten wiederum sind angehalten, keinen Intimverkehr ohne Kondom zu praktizieren, da der Wirkstoff auch über die Samenflüssigkeit übertragen werden kann.

Aber zuvor ist schon die Beschaffung nicht ganz einfach. Weil die Firma Pharmion, derzeit der einzige Vertreiber eines Thalidomid-Präparats in Europa, die zum Teil aufwändigen Sicherheitsanforderungen in seine Vertriebsprozedur eingearbeitet hat und sich das gut bezahlen lässt, ist die Behandlung zudem relativ teuer. Gleichzeitig ist die Abrechnungsfähigkeit bei den Krankenkassen nicht immer einfach, da dem Wirkstoff derzeit die Zulassung in Deutschland fehlt. Für Ärzte wie für Patienten wäre es daher einfacher, wenn eine Zulassung des Präparats zustande käme. Immerhin wird die entsprechende systematische klinische Studie, die Voraussetzung für den Zulassungsantrag auch in Europa, derzeit vorbereitet. Auch Thomas Möhler würde Studie und Zulassung begrüßen: „Thalidomid ist für viele Myelom-Patienten schließlich eine letzte Hoffnung.“

Dass sich mit Thalidomid auch wieder Geld verdienen lässt, beweist die US-Firma Celgene, von der auch Pharmion den Wirkstoff bezieht. 2004 setzte Celgene mit dem einst so verrufenen Wirkstoff mehr als 300 Millionen US-Dollar um. Schätzungen zufolge werden 90 Prozent der verkauften Substanz in Tumortherapien, wie die des multiplen Myeloms, eingesetzt .

Mit dem heutigen Markterfolg hat der einstige Contergan-Hersteller Chemie Grünenthal nichts mehr zu tun. Als eine Folge der Tragödie hatte sich das Unternehmen, das heute nur Grünenthal heißt, verpflichtet, Thalidomid nie mehr kommerziell zu nutzen. Restbestände zur Behandlung von Lepra oder für den Einsatz bei der Krebsbehandlung hatte Grünenthal kostenlos zur Verfügung gestellt.