Ornamente als Wirklichkeitsfundament

Merkwürdig sympathisierendes Miteinander, merkwürdig unbeteiligtes Nebeneinander, aber frei von Bitterkeit: Lars Brandt hat mit „Andenken“ ein kluges, reflektiertes und literarisches Erinnerungsbuch über seinen Vater Willy Brandt und ihrer beider schwierig-distanzierte Beziehung geschrieben

Lars Brandt geht es um seinen,den ureigenen Willy Brandt,den er gegen die öffentliche Figur abzuschirmen versucht

von GERRIT BARTELS

Diese Szene prägt sich nachdrücklich ein, wie so viele Szenen in diesem kleinen Buch. Vater und Sohn, die in einem kleinen Boot sitzen, irgendwo auf einem See in Südnorwegen, und stumm ihre Angeln in den See halten, „jeder nach seiner Seite des Kahns hinaus angelnd“. Erfolg ist ihnen nicht beschieden, kein Fisch beißt an, viele Tage lang nicht. Der Vater, der sowieso wenig spricht, verstummt endgültig, und dem Sohn unterläuft ein Fauxpas, ein symbolisch aufgeladener dazu. Er wirft die Angel in die falsche Richtung und trifft den Vater mit einem Angelhaken, woraufhin dieser mehr erstaunt als erbost herüberschaut, „auf seiner Wange zwei scharfe Linien und ein paar kleine rote Perlen“.

Der Vater in diesem Buch ist Willy Brandt, einer der wenigen wirklich weltläufigen deutschen Staatsmänner, der im Oktober 1992 starb. Der Sohn, der das alles erzählt, ist Lars Brandt, geboren 1951 als zweiter Sohn des Ehepaares Willy und Rut Brandt, der heute in Bonn lebt und Künstler von Beruf ist. „Andenken“, so der Titel seines Buches, ist eine Art Porträt von Willy Brandt, ein eigenwilliges, ambitioniertes Porträt. Insbesondere aber ist es die Geschichte einer diffizilen Vater-Sohn-Beziehung. Der distanzierte Charakter dieser Beziehung offenbart sich allein darin, dass Lars seinen Vater in diesem Buch „V.“ nennt – so wie dieser seine Briefe an seinen Sohn unterzeichnete, „als er es nicht mehr passend fand, mit Papi oder Vati zu unterschreiben“; gleichfalls so, wie Willy Brandt den eigenen Vater, den er nie kennen lernte, in Briefen bezeichnete.

Von der ersten bis zur letzten Seite spürt man diese Distanz zwischen den beiden. Sie geht natürlich vom Vater aus, von Lars als „Vagheit“ beschrieben, wird später einvernehmlich gewahrt, von Lars als Freiheitsgewinn verstanden. Es ist ein merkwürdig sympathisierendes Miteinander, ein unbeteiligtes Nebeneinander: Vater und Sohn frühstücken schweigend, „uns genügte das Knistern der Zeitungen“, für den Papagei aber fallen jeden Morgen ein paar zärtliche Liebkosungen seitens Willy Brandts ab; sie gehen zusammen ins Kino, wo der Vater sofort einschläft, oder Lars wird mit eisigstem Blick empfangen, als er nach einem Besuch noch einmal zum Vater zurückkehren muss.

Lars Brandt schreibt, nicht Kummer oder Übermut hätten ihn zu diesem Buch angetrieben, nicht der Drang zu neuen Erklärungen oder zur Aufklärung. Ihm hätte der Sinn nach „Ornamenten“ gestanden: „Mich treiben Muster ans Papier, die sich ihr Material aus der Wirklichkeit holen. Den Blick schärfen, ein paar Stücke verabsolutieren, die das Ornament vorgeben.“

Ornamente also, aber nicht im Sinn von Verzierung, nicht als Schmuck, sondern als Wirklichkeitsfundament; Ornamente in Form von Erinnerungen, Betrachtungen und Gedankensplittern, meist auf einer Buchseite, selten mal auf zwei, manchmal chronologisch, manchmal beliebig angeordnet, wonach der Sinn stand, wie die Erinnerung es vorgab; Ornamente, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem Kunstwerk fügen sollen. Dazu gehören auch ein Polaroid, zwei Automatenbilder, eine Lackdose mit Willy Brandts Konterfei, eine schnell hingeworfene Zeichnung und das Ölgemälde eines türkischen Künstlers vom vierjährigen Willy – ein Privatbilderbuch, das für Lars Brandt gleichzeitig Lebendigkeit wie Vergänglichkeit bedeutet und das ihm als Bollwerk gegen Willy-Brandt-Fernsehbilder und Pressefotos dient.

Es beginnt mit einem Umzug. Willy Brandt ist nach der Guillaume-Affäre gerade zurückgetreten, die Brandts ziehen von der Kanzlervilla in eine andere Villa am Bonner Venusberg. Auf der Straße zurück bleiben riesige Elefantenstoßzähne, kein Möbelpacker, kein Familienmitglied beachtet sie. Lars wundert sich und fragt später nach, warum das Elfenbein zurückblieb und wo es überhaupt herkam. Über diese Frage wundert sich wiederum sein Vater, das Elfenbein hat ihn nie interessiert, und nur widerstrebend klärt er Lars über dessen Herkunft auf. Diese Geschichte steht für Lars Brandt stellvertretend für das mangelnde Interesse seines Vaters auch an den meisten Menschen, die ihn umgaben, und sie ist für ihn gleichfalls ein Hinweis für so manche Unwirklichkeit des Brandt’schen Lebens und Familienlebens überhaupt.

Immer wieder findet Lars Brandt Geschichten und Bilder dieser Art, die auf mehr hinweisen, sei es das Angeln (die Zweiteilung in Oberfläche und unergründliche Tiefe!), sei es die Kleidung des Vaters, sei es der Verzicht auf die Uhr und eigenes Geld (Verlust der Selbstbestimmung zugunsten des Gewinns an Macht!).

„Andenken“ ist ein kluges und reflektiertes Erinnerungsbuch, ein formstrenges und knappes sowieso. Es strahlt in seiner Nüchternheit keine Bitternis aus, rührt aber auch nicht an mit seinen privatistisch sachlichen Bestandsaufnahmen. Man ahnt nur, dass zwischen den Zeilen mehr mitschwingt, dass das Künstlerische den Ärger und die Abrechnungsgelüste im Zaum hält, dass es für Lars Brandt, der später für seinen Vater auch Reden schrieb, ein doch auch unbefriedigendes, seinerseits unterschwellig aggressives Verhältnis war. Darauf weist die Szene am See hin, die zu weiteren psychoanalytischen Überlegungen einladen könnte; darauf weist hin, wie oft Lars Brandt betont, wie gut ihm das Inruhegelassenwerden getan hätte; und plötzlich auftauchende Formulierungen in dem sonst so stilsicheren, sprachlich präzisen Buch wie „ich glaube, es stört mich nicht weiter“ oder „das war eben sein Stil, fand ich“, als einmal von einer Buchwidmung des Vaters die Rede ist: „Lars mit guten Wünschen – Willy Brandt“!

Es schwingen hier also viel Auf- und Abarbeitungsfantasien mit, andererseits ist „Andenken“ eine Vatervergewisserung. Lars Brandt geht es um seinen, den ureigenen Willy Brandt, den er gegen die öffentliche Figur abzuschirmen, gegen die öffentliche Einvernahme zu verteidigen sucht. Wiewohl er weiß, dass der Willy Brandt, der einen Pakt mit der Öffentlichkeit geschlossen hat, und der Willy Brandt zu Hause eins sind, „ein siamesisches Widerspruchsgebilde“. Lars ist sich dieses Wechselspiels bewusst, er folgert, „daß es in allem mehr gab als uns beide“. Und er weiß sehr wohl, dass sein Buch ein Teil dieses Widerspruchsgebildes ist, fügt es doch der bekannten und gewiss nicht kleinen Willy-Brandt-Geschichtsschreibung eine weitere Facette hinzu – eine private, näherungsweise literarische zwar, aber gleichfalls eine der Öffentlichkeit nun zugängliche, die neue Lesarten provoziert.

Dass die Zeitläufe, in denen diese Beziehungsgeschichte sich abgespielt hat, nicht zu kurz kommen, versteht sich da von selbst. Der Spitzel Guillaume kommt vor, seine Schlichtheit und sein Bildungsmangel schienen unübersehbar. So wie Willy Brandt sich wenig um seine Umgebung scherte, ob nun Chauffeure, Haushälterinnen oder Söhne, hatte diese Spionage-Affäre wohl seine Folgerichtigkeit. Dann die Jahre in Berlin, in der Mauerstadt, deren Atmosphäre Lars Brandt mit wenigen Strichen/Worten einzufangen weiß, die knisternde genauso wie die miefig-ehrpusselige. Oder seine merkwürdigen Treffen mit den Kindern von Robert Kennedy, die kaum von ihren Comics aufsahen, und mit dem Ceaușescu- Sohn Niku, der über die Bärenjagd reden wollte; ein Essen mit Sadat und seiner Entourage, ein Besuch der Wehners bei den Brandts in Norwegen, eine Silberdose mit der Gravur „L.B. from J.F.K.“

Gerade diese Szenen sind meistens Anekdoten, denen auch Lars Brandt über das Abseitig-Kuriose hinaus nicht viel Sinnfälliges zu verleihen imstande ist – daraus bestand eben die Wirklichkeit der Brandts, und es ist diese Wirklichkeit, die neben dem Intim-Privatistischen den Reiz dieses Buches ausmacht. Lars Brandt ist ein Promi-Sohn, wie man heute sagt, der Sohn einer großen Figur der Zeitgeschichte zumal; und die Kleinheit der Form, das Miniaturistische, ist da geschickt gewählt.

Chronologisch korrekt endet „Andenken“ mit den letzten Jahren Brandts, nach einem bezeichnenden Zerwürfnis (in einem Interview hatte Willy Brandt gesagt, seine Söhne seien mit ihm als Vater einverstandener, als es ihm selbst recht sei, woraufhin Lars die Beziehung abbrach) nimmt Lars mit dem kranken Vater wieder Kontakt auf.

Nach der Lektüre hat man zwar das Gefühl, durch ein Schlüsselloch geschaut zu haben, den wahren Willy Brandt ziemlich scharf herangezoomt bekommen zu haben. Und doch verlieren sich Schärfe und Nähe sofort wieder – das mag an der Splitterförmigkeit der Erinnerungen liegen, an der komplexen, auch von Lars nicht immer zu fassenden Persönlichkeit Willy Brandts. Was bleibt, sind Bilder, Blitzlichter, Beobachtungen, Gedanken. So wie Lars Brandt, der ganz am Ende schreibt, er wisse nicht, wenn er auf seinen Vater angesprochen wird, was er sagen soll, ist man nach Zuschlagen dieses Buches sofort geneigt, die Lücken zu füllen mit den Erinnerungen von Willy Brandt selbst oder den vielen Büchern über ihn.

Lars Brandt: „Andenken“. Hanser Verlag, München 2006, 156 S., 16,90 €