Die Mauer in den Köpfen

Ein riesiger Betonwall soll Grimma künftig vor Fluten schützen. Bürgerinitiativen kritisieren den Bau als verfehlt. Nun ist die sächsische Kreisstadt abgesoffen. Hätte die fertige Mauer es verhindert?

Wäre es nicht viel sinnvoller, dem Fluss mehr Raum zu geben?, fragt Werner Reibetanz von der Bürgerinitiative. Um die Mulde in den Griff zu bekommen, habe man sogar die historische Brücke von Barockbaumeister Pöppelmann teilweise geschleift. Was habe es gebracht? Nichts

AUS GRIMMA THOMAS GERLACH

Aus der Ferne erscheint es wie ein Feuerwehrfest, wäre nicht dieser leicht modrige Geruch, der über dem Marktplatz liegt. Biertischgarnituren sind aufgestellt, auf der Straße eine Batterie Dixi-Klos. Helfer, Feuerwehrmänner, Leute im Blaumann löffeln Linseneintopf. Vor einer Woche floss hier die Mulde, ein beschaulicher Fluss, nicht zu mächtig, nicht zu klein, gerade richtig, um Grimma mit seinen Renaissancehäusern, Kirchen und Gassen zu verzieren. Kurzum, ein anmutiger Ort.

Wenn es nicht die „Fünf-b-Wetterlage“ gäbe, bei der tagelang die Zyklone über dem Erzgebirge kreisen und Sturzbäche schicken. Die eilen über Freiberger und Zwickauer Mulde gen Norden. Oberhalb von Grimma treffen sie zusammen und strömen auf die Stadt zu. Kurz vor den ersten Häusern legt sich der Fluss in eine 90-Grad-Kurve nach rechts. Bei normalem Pegelstand. Doch am 13. August 2002 fraß sich die Mulde, einem Lindwurm gleich, durch Grimma. Als sie wieder in ihr Bett zurückgekehrt war, blieb ein sächsisches Vineta zurück: Fast 700 beschädigte Häuser, 45 abbruchreif, Schadenssumme: 225 Millionen Euro. Als sie alle Durchflussmengen addiert hatten, sprachen Hydrologen von einem „200-jährlichen Ereignis“. Nach elf Jahren kam es wieder.

Blick zu den Wolken

Ute Finsterbusch steht vor ihrem Jeansladen. Gleich müsste der Baugutachter kommen, der ihr sagen wird, ob der geflieste Fußboden noch zu gebrauchen ist. Gebläserüssel stecken in aufgebohrten Öffnungen und drücken Luft in den Boden. Vor drei Jahren hat sie das „Go In“ eröffnet. Skeptisch blickt sie zu den Wolken. „Man verfällt in Panik, wenn es länger regnet“, gibt sie zu. Doch der Regen hat für heute aufgehört. Drei Straßen entfernt wälzt sich die Mulde vorbei.

„Etwa siebzig Zentimeter hoch stand hier das Wasser.“ Finsterbusch zeigt auf die Linie an der Wand. Die Jeans hat sie gerettet, die Ladeneinrichtung ist hin. „Die Grimmaer haben nicht gedacht, dass das so schnell wiederkommt“, sagt sie. „Vielleicht eine Arroganz.“ Wahrscheinlich war es der Buchstabenglaube an das Wort „Jahrhundert“-Hochwasser. „Na ja, wir leben am Fluss“, sagt Finsterbusch, als hätte sie sich in ihr Schicksal gefügt. „Das muss man wohl beachten.“ Was das heißt? Hochwasserschutz müsse viel früher ansetzen, länderübergreifend sein. Flüsse brauchten mehr Raum. Sie schließt: „Ich denke, die Mauer hätte was gebracht.“

Die Mauer. Die Grimmaer haben eine Mauer in den Köpfen, mächtiger als die von Berlin, technisch ausgefeilt, Ingenieurskunst erster Güte und nicht gegen Menschen gerichtet, sondern gegen die Mulde. 2007 begannen die Arbeiten. Allerdings ist „Mauer“ eine gehörige Untertreibung. Es geht um ein zwei Kilometer langes Bauwerk aus Beton, das zwölf Meter tief in der Erde steckt, etwa drei Meter in die Höhe ragt, teilweise in Gebäude integriert und mit mächtigen Toren und Luken versehen ist. Mit acht Brunnen, horizontalen Rohren und einem Schöpfwerk. Kostenpunkt: 40 Millionen Euro, finanziert von EU und Freistaat Sachsen.

Für die 30.000-Einwohner-Stadt ist es der größte Bau, der je errichtet wurde, eine Arche aus Beton, ein Monument wie der Turm zu Babel, nur ebenerdig – und auch sonst Objekt biblischer Deutung. Die einen erhoffen sich Schonung vor der Sintflut, die anderen verdammen diesen Wahn, der die Menschen in trügerischer Sicherheit wiegt und die Stadt einbetoniert. Oberbürgermeister Matthias Berger, der 2002 Bundeskanzler Gerhard Schröder durch die zerstörte Stadt führte, übermittelte sein Credo kurz nach der Flut via Bild: „Die Flutmauer hätte das Hochwasser aus der Stadt gehalten!“ Doch Bürgerinitiativen mäkelten an der Idee herum, klagte Berger. Denkmalschützer protestierten, endlose Diskussionen hätten die Planungen behindert. Kurz: „Mauergegner“ haben den Traum vom behüteten Eiland Grimma, von den Fluten umtost, zunichtegemacht.

Der Nachbar der Mulde

Michael Pirr trägt keine Schuld. Der 57-Jährige wohnt mit seiner Tochter in der Mühlstraße, seine Nachbarin ist die Mulde. Ein kleines Haus, zwei Geschosse, von Efeu umrankter Garten, direkt an der Stadtmauer. Pappelflaum hängt in der Luft. Von einem Podest aus schaut er an Sommertagen wie ein Gutsherr auf den Fluss, sechs Meter Abstand bei normalem Pegel. Pirr glaubt nicht, dass die Mauer die Wasser gestoppt hätte. Trotzdem verdammt er das Sperrwerk nicht.

„Mauer ja, wenn die Talsperren mitspielen“, sagt er und blickt auf den gurgelnden Strom. Das Ungemach beginne weiter oben. Doch da hapere es, seitdem der Freistaat Talsperren privatisiert habe. Die Talsperre Kriebstein im Erzgebirge diene seitdem vor allem der Stromerzeugung. Dabei sei sie 1930 ausdrücklich für den Hochwasserschutz errichtet worden, bekräftigt Pirr. Eine Plakette an der Staumauer, die dies belege, sei nach der Flut von 2002 auf rätselhafte Weise verschwunden.

Auf Bauwerke von höherer Stelle, geografisch wie politisch, sei also wenig Verlass. Pirr konnte sein Haus 2002 nur noch abreißen und neu bauen. Seine Lösung: Er hat den Neubau hochwassersicher errichtet. Heizung, Elektrik, alles Technische und Teure, die gesamte Wohnung hat er ins Obergeschoss verlegt, unten sind nur Wirtschaftsräume und Garage, die Treppe ist massiv, die Türzargen sind aus Stahl, die Außenwände aus Beton, einen Keller gibt es nicht. Bis Oberkante Untergeschoss kann Pirr ruhig bleiben. Die jetzige Flut stand allerdings 30 Zentimeter im Obergeschoss. Pirr ist trotzdem nicht unzufrieden – einziger Schaden: eine Schrankwand.

Zugehört hat ein distinguierter Herr mit silbriger Mähne. Durch die offene Garage ist Werner Reibetanz getreten. Reibetanz, ein Mann von über 80 Jahren, wird gerade zum Bösewicht von Grimma stilisiert. Im fernen Berlin hat ihn eine Sonntagszeitung als Giftzwerg karikiert, den die Tomaten im Garten mehr dauern als die Schicksale seiner Nachbarn. Reibetanz gehört zu jener Bürgerinitiative, der manche den zweiten Untergang von Grimma anlasten. Michael Pirr, zweimal abgesoffen, macht keine Anstalten, mit dem Rentner abzurechnen. Im Gegenteil, schnell fachsimpeln sie über Fließgeschwindigkeiten, Hochwasserquerschnitte, sogenannte HQs, Aufstauungen und Grundwasser.

„Die Mauer ist nur für ein Hochwasser HQ100 gebaut“, erklärt Reibetanz. Die 100 bedeute eine statistische Wiederkehrwahrscheinlichkeit von hundert Jahren. „Eine Flut wie 2002 kann die gar nicht abhalten. Das war mindestens HQ200. Und das jetzige Hochwasser wird auch bei circa HQ150 liegen“, referiert Reibetanz weiter. Um die Mulde in den Griff zu bekommen, habe man sich nicht gescheut, die historische Brücke von Barockbaumeister Pöppelmann teilweise zu schleifen, in der Annahme, dass die Brücke die Flutwelle zu sehr staue. Was habe es gebracht? Nichts.

„Tennisplätze“ im Flussbett

Wäre es nicht viel sinnvoller, dem Fluss mehr Raum zu geben? Das Flussbett habe sich in den Jahrhunderten um mehrere Meter angehoben. Bei Niedrigwasser tauchten „ganze Tennisplätze“ auf. Und sollte man das feste Wehr bei der Großmühle nicht beweglich machen, um es bei Hochwasser senken zu können?

Dem eher leisen Pirr, von Beruf Maschinenbaumonteur, bleibt nicht verborgen, dass hier einer spricht, der sich gern reden hört, der Kernpunkte und Fußnoten gleichzeitig mitteilen will, dem dabei ein Schwall aus dem Mund quillt, den er selbst kaum bändigen kann. Der den Zeigefinger hebt, mit der Hand gestikuliert, sich durchs Haar fährt und dabei allwissend schaut. So einer steht im Geiste stets am Katheder. Kein Wunder, Reibetanz, Dr.-Ing. habil, war Hochschullehrer. Aber sind deswegen seine Argumente falsch?

Pirr verabschiedet sich. Reibetanz führt den kurzen Weg hinab zur Großmühle, vorbei an Hausbesitzern, die erschöpft aus offenen Fenstern schauen. Er watet zielstrebig durch Matsch, zeigt auf eine Gebäudeecke der Mühle, wo alle Fluten seit 1771 verewigt sind. 16-mal hat die Mulde Grimma seitdem überschwemmt. Dreimal im 18. Jahrhundert, dreimal im 19. Jahrhundert, achtmal im 20. Jahrhundert. Die zwei mit Abstand höchsten Fluten brachte das noch junge 21. Jahrhundert.

Zwanzig Meter in Richtung Fluss ragt der erste sichtbare Teil des Bauwerks auf, grau und glatt, dazu ein stählernes Tor, das abseits auf dem Boden liegt. Reibetanz taxiert Mauerkrone und Wasserstände. Nein, er schüttelt den Kopf, auch das Hochwasser vom 3. Juni wäre nicht zu halten gewesen. Zudem müsse man noch das Wasser addieren, das bisher durch die Stadt fließt.

Politischer und ingenieurtechnischer Dilettantismus allenthalben. Sollte man nicht jetzt endlich die Bürgermeinung berücksichtigen? Und gibt es nicht auch in Grimma Ingenieure mit Erfahrungsschatz? „Wir sind doch kein Dorf!“, entfährt es ihm. Aber es gibt doch die „zwei kräftigen Bürgerinitiativen“, wie der Leiter der zuständigen Talsperrenverwaltung in den „Tagesthemen“ klagte? Ach was, Reibetanz winkt ab. Eine einzige von anfangs dreien gebe es noch, ein Häuflein, Werner Reibetanz mittendrin. Kein eingetragener Verein, ein Rentnerclub, zwei sind gestorben, heute vielleicht ein knappes Dutzend Aktiver. Kein Hauch von Stuttgart 21.

„Man hat uns ignoriert und ins Leere laufen lassen“, schimpft er. Dabei habe das Hochwasser jetzt gezeigt, dass die bisherige Planung aussichtslos sei. Doch als hätte er seine Energie heute verbraucht, wird Werner Reibetanz zum Abschied geradezu konziliant. „Wenn die Mauer ein bisschen niedriger wird und nicht die alte Stadtmauer überdeckt, dann hätten wir viel gewonnen.“ Sagt’s und geht, an seinen Schuhen klebt noch Schlamm. Für ihn war es die letzte Flut. Vermutlich.