Der Kranke und die Sängerin

ROMANZE Woher kommen sie, die großen Gefühle? In Ulrich Woelks Roman geht es um die Verbindung zweier Menschen, um unbeglichene Schuld, um Familiengeschichten. Und um die Frage „Was Liebe ist“

Er ist Epileptiker. Dank des Medikaments Topamax kann er seinen kranken Körper kontrollieren, trotzdem ist Roland ein vorsichtiger Mann. Er ist auch ein promovierter Jurist, wohlhabender Firmenerbe und sportlicher Mitdreißiger. Sie ist eine Ausbrecherin, Jazzsängerin, Raucherin. „Love and Fight“ steht in großen Lettern auf ihrem T-Shirt, als sich beide in einem Berliner Café zum ersten Mal begegnen.

Zufällig ist Zoe da, in einem Moment, als Roland von einem herannahenden epileptischen Anfall überrascht wird. Die Aura klingt wieder ab, aber der Eindruck dieser ersten Begegnung bleibt. Zwischen Zoe und Roland entwickelt sich eine Liebesgeschichte – mit viel aufregendem Beiwerk: Gefühlsbekenntnisse in Jazzversion, ein eifersüchtiger Lebenspartner namens Piet, gemeinsame Nächte in einer Amsterdamer Rotlichtabsteige und Sex am Strand.

„Was Liebe ist“ heißt Ulrich Woelks neuer Roman. Das ist ein trockener Titel für eine recht wilde Love-Story. Doch Autor Woelk ist der Erzähler des Psychologischen, die Romanze zwischen Zoe und Roland bietet nur eine Kulisse für seine tiefen Reflexionen über die Herkunft der Gefühle. „Was Liebe ist“ – dieser Frage lässt Ulrich Woelk in einer literarischen Familienaufstellung seine Außenseiterfigur Roland nachgehen, mit einem klugen, eindringenden Blick.

Historisch legt Woelk die Begegnung zwischen Zoe und Roland nach 1999. Es ist das Jahr, in dem ehemalige Zwangsarbeiter des Naziregimes erstmals in einer Massenklage von deutschen Konzernen Schadenersatz einfordern. Auch die Ziegler AG, an der Roland einen zehnprozentigen Anteil trägt, trug in Woelks Roman zu jener Ausbeutung von Kriegsgefangenen bei, die im Nazijargon zynisch als „Vernichtung durch Arbeit“ bezeichnet wurde. Als Roland seinen epileptischen Anfall erahnt, ist er gerade auf dem Weg zu einer Entschädigungskonferenz, der er im Namen der Firma beiwohnen will. Die Begegnung zwischen Zoe und ihm ist von Beginn an mit der moralischen Last der Unternehmerdynastie Ziegler verbunden.

Zoe ist nur eine von vielen Frauenfiguren, die Woelk um die Wahrheitssuche seines Helden anlegt. Da gibt es die Mutter, die Roland verließ, als er noch ein Kind war und nur als Phantom in seiner Gedankenwelt auftaucht. Oder es gibt seine Tante Lisa, die sich nach dem Krieg von der Familie abwandte, und es gibt die Großmutter, die bis ins hohe Alter über die Vergangenheit schweigt. Aus der Perspektive eines Mannes, des verlassenen Sohnes, des taktierenden Firmenerben oder des Begehrenden zeichnet Woelk letztlich das Porträt dreier deutscher Frauengenerationen. Alle finden ihren nicht immer glücklichen Weg zur Liebe. Nur Zoe verliert sich. Sehnsucht nach Nähe und Vereinsamung, „Love and Fight“ bringen sie stets ins Schwanken.

Woelk ist ein feiner Beobachter des Zwischenmenschlichen. In seinem nunmehr neunten Roman neigt er allerdings dazu, seine psychologischen Momente mit zu viel Akkuratesse zu konstruieren. Er schiebt symbolische Szenen ein – eine junge Frau, die sich von einem Betrüger umschmeicheln lässt, ein Neunjähriger, der sein Klaviervorspiel verpatzt –, die allzu deutlich einer Veranschaulichung des seelischen Handelns dienen. Hingegen entwickelt Woelk im literarischen Beiklang dieser Bausteine, wenn „der Kaffee in den Becher plätschert und danach für eine Weile nur Regen zu hören ist“, seine erzählerische Kraft, Atmosphären zwischen Menschen darzustellen. In den Kardinalmomenten lässt er seinen Protagonisten Roland, eine stets ergründende Figur, sogar schweigen. Dann wendet sich Woelks Geschichte, doch Rolands Erzählung verstummt. Das ist schön.

Poetisch und nüchtern zugleich ist Woelks Liebesgeschichte. Sie beginnt in Einsamkeit und endet in Einsamkeit. Während ihrer gemeinsamen Episode werden Zoe und Roland viel über sich erfahren, und es ist die Epilepsie, die sie an die Wahrheit heranführt. Der Liebe selbst lässt Woelk jedoch ihren Mythos.

SIMONE JUNG

Ulrich Woelk: „Was Liebe ist“. Dtv Premium, München 2013, 300 Seiten, 14,90 Euro