theorie und technik
: Hallo Krise, schön dass du da bist! – Anmerkungen zum Verwandtschaftsverhältnis von Krise und Kritik

Eine vertrackte Sache, was wir als Krise diagnostizieren. Vorbewusste Ideen von der Zukunft spiegeln sich darin

Gesellschaftsanalyse ist heutzutage von einem depressiven Sound durchzogen. Über nichts gibt es mehr Konsens als über die Feststellung: Alles wird schlechter. Dass die Utopien am Ende sind, ist common currency; die Arbeitsgesellschaft ist in der Krise, und wenn es irgendwo tickt, dann ist das bestimmt die ökologische oder die demografische Zeitbombe.

Es gibt mehr als fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland und in allen fortschrittlichen westlichen Gesellschaften ganze Generationenkohorten dauerhaft exkludierter, „überflüssiger Menschen“. Nicht zu vergessen: Afrika. Klimawandel. Der Clash of Civilizations. Das Öl geht aus. Kurzum: Es ist fürchterlich.

Doch, seltsam, all diese Krisen summieren sich zu keinem „Krisenbewusstsein“ in einem eminenten Sinn. Dass eine ganze Epoche als Krisenphase erlebt wird, braucht offenbar mehr: das Bewusstsein, dass das „große Ganze“ nicht mehr funktioniert und durch etwas Neues, Zeitgemäßes ersetzt werden muss.

Eine Krise ist also eine ziemlich vertrackte Sache. Es ist daher sehr lobenswert, dass die Brecht-Tage, die wie jedes Jahr auch diese Woche in Berlin stattfinden, sich diesmal des Themas „Krise und Kritik“ annehmen. Der titelgebende Hintergrund ist ein Zeitschriftenprojekt dieses Namens, das Bertolt Brecht, Walter Benjamin und einige andere zu Beginn der 30er-Jahre verfolgten. Aus dem wurde zwar nichts, aber es blieben ein paar Thesenpapiere und Notizen in den Archiven zurück. Aufgabe der Zeitschrift sei es, hieß es in einem, „die Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik“. Und als Titel der ersten Nummer schlug Brecht vor: „Die Begrüßung der Krise“.

Das klingt natürlich reichlich absurd in unseren heutigen Ohren. Wer würde rufen: „Hallo Krise, schön dass du da bist!“

Daran ersehen wir, dass scheinbar präzise Begriffe wie „Krise“ und „Kritik“ eingefärbt sind von einem modernen Zeiterleben, das man „fortschrittsorientiert“, „teleologisch“ oder auch „utopistisch“ nennen kann; diese Begriffe beschreiben im Einzelnen zwar unterschiedliche Auffassungen von Geschichtlichkeit, sie alle verbindet aber eine auf die Zukunft ausgerichtete Zielstrebigkeit.

Im Zeiterleben der klassischen Moderne, das von einem tiefen Optimismus durchzogen war, markierte der Begriff „Krise“ einen „Verwandlungs-Zeitraum“ (Immanuel Wallerstein), der gewiss eine gefährliche Zeit sein konnte, aber doch vor allem ein Moment systemischer Weichenstellungen darstellte; in unserem heutigen Zeiterleben (gerne mit Adjektiven wie „ernüchtert“, „nachmodern“ oder „postmodern“ apostrophiert) ist „Krise“ nichts als eine Bedrohung. Kein Versprechen, sondern nur ein Verlust, kein Übergang, sondern ein „Kollaps“ (kein Zufall, dass Jared Diamonds Bestseller so heißt). Eine Krise kann man willkommen heißen, einen Kollaps eher schwer.

Krise und Kritik sind nicht nur etymologische Verwandte (griechisch krino = scheiden, trennen). Krise und Kritik gingen seit jeher Hand in Hand wie Laurel und Hardy. Krise und Kritik haben, wie jüngst der Theoretiker Boris Buden formulierte, etwas gemeinsam, zwischen ihnen gibt es eine „authentische Beziehung“. Ein Akt der Kritik impliziert fast notwendig das Bewusstsein der Krise – und die Diagnose der Krise impliziert die Notwendigkeit der Kritik. Buden: „Zu sagen, dass etwas in die Krise geraten war, bedeutet vor allem, zu sagen, dass es alt geworden war, dass es sein Existenzrecht verloren hatte und daher mit etwas Neuem ersetzt werden sollte. Kritik ist nichts als der Akt dieses Urteils.“ Von Brecht ist der schöne Satz bekannt, es gelte, sich nicht ans gute Alte, sondern an das schlechte Neue zu halten.

Kritik, so antiutopisch sie sich auch camouflieren mag, so sehr sie auch ins Bestehende verstrickt ist (ihr Gegenstand ist ja immer das schon Existierende), ist also von „Utopie“ als einem inneren Motiv durchzogen. Und die Krise ist die praktische Selbstkritik des Bestehenden. Man nennt sie nicht von ungefähr einen „kritischen Punkt“, und die Mediziner kennen den Begriff der „Krisis“, der, wenn der Sieche sie übersteht, die Genesung folgt.

Es ist angesichts dessen leicht einsehbar, was es für die Linke bedeutet, wenn sie ihren Optimismus verliert, wenn sie etwa infolge des Endes des fordistischen Arrangements den 70er-Jahren nachweint. Nicht dass der blinde Glaube an die goldene Zukunft, wie ihn die klassische Linke hegte, nicht durchaus fragwürdig war. Aber der Verlust dieser spezifisch modernen Zukunftsfröhlichkeit zerzauste auch Konzepte wie „Krise“ und „Kritik“, er hinterließ so etwas wie eine Krise der Kritik.

ROBERT MISIK