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Archiv-Artikel

Resolution der Ohnmacht

DISKUSSION Am Morgen nach der Stürmung von Gezi-Park und Taksim-Platz sind die Emotionen beim Türkei-Thema auch in Bremen heiß – und die Meinungen über Folgen aus den Gewaltexzessen gespalten

Politik bedeutet auch, sich den offenen Fragen jenseits des eigenen Einflussbereichs zu stellen. Und sei’s, um die eigene Ohnmacht festzustellen. Das hat am Sonntagvormittag eine Grünen-Veranstaltung gemacht: Die Diskussion über Protestbewegungen in der Türkei, ihr Niederknüppeln durch die Regierung Regep Erdoğan und die Frage, wie Europa darauf reagieren sollte, endete in einer spontan formulierten und akklamierten Resolution. Eine Verurteilung der Gewalt, eine Ermutigung der demokratischen Kräfte plus Soli-Grüße an Claudia Roth, die in Istanbul zwischen die Fronten geraten war. Ohnmacht eben.

In den Europa-Punkt im Haus der Bürgerschaft geladen hatte die Bremer Europaabgeordnete Helga Trüpel. Es war proppenvoll: Mehrere BesucherInnen hatten nächtlich per online-TV die gewaltsame Räumung des Istanbuler Gezi-Parks verfolgt. Emotional war daher streckenweise die Debatte. Und nicht eindeutig ließ sich klären, welche Auswirkungen die staatlichen Gewaltaktionen auf das Verhältnis zur Türkei haben sollten – und was sie für die Sicht aufs besorgniserregende Erodieren der Demokratie innerhalb mehrerer EU-Mitgliedsstaaten bedeutet. Denn ihr erhabenes Selbstbild als Wertegemeinschaft kann die ja nur schwer aufrechterhalten. Und der moralische Standpunkt ist wichtig, wenn es darum geht, Kritik am Beschneiden der Menschen- und Bürgerrechte in anderen Ländern zu üben. „Wenn ich mir die Situation in Ungarn anschaue und sehe, wie wenig dagegen getan werden kann“, so sagt’s die Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, „dann denke ich, ich verstehe die EU einfach nicht.“

Trüpel nannte, pragmatisch korrekt, konservative Mehrheiten als Grund fürs allenfalls zögerliche Vorgehen gegen Victor Orbáns Schleifen der Gewaltenteilung. Allerdings: Wer will noch von einem tragfähigen Wertefundament sprechen, wenn es je nach politischer Wetterlage zur Disposition steht?

Zutiefst zweideutig daher auch die Frage, wie EU und Türkei sich weiter annähern sollten: Einige sind für ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen, andere zweifeln, ob das, angesichts der wirtschaftlichen Krise der EU, ein echtes Drohmittel wäre und die nächsten halten es für wichtig, die Gespräche zu intensivieren, gerade um den in den Jahresberichten ans Europaparlament nachgezeichneten Rückbau der Laisierung und die Entwicklung zur Parteiendiktatur problematisieren zu können.

Das sei innerhalb der multinationalen grünen EP-Fraktion eher mehrheitsfähig, so Trüpel, aber auch dort habe es Stimmen für ein sofortiges Aussetzen der Gespräche gegeben. Jene Fraktionen wiederum, die im Europaparlament seit jeher und oft ressentimentgeladenen gegen die Option eines EU-Beitritts gekämpft haben, „die fühlen sich jetzt bestätigt“.Benno Schirrmeister

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