: Mehr Licht, bitte mehr Licht!
Einer Europäischen Kulturhauptstadt 2010 an der Ruhr fehlt immer noch das erleuchtete literarische Quartier
„Das Ruhrgebiet findet in der Literatur nicht statt“. Diese spöttische These verfocht jüngst Jürgen Lodemann, selbst Autor des Romans „Essen, Viehofer Platz“. Der Befund ist natürlich falsch, weist aber beharrlich auf einen Mangel hin. Zu lange entstand Literatur aus der Region, Literatur über und aus dem Stoff Ruhrgebiet auf zu geringem Niveau oder wurde, bei beachtlicher Qualität, von Feuilletons und Publikum kaum wahrgenommen. In den vergangenen dreißig Jahren bestätigen Ausnahmen wie von der Grün, Lodemann, Rothmann oder zuletzt (posthum) Nicolas Born nur die verdrießliche Regel.
Aber abseits dieses Erfolgsquartetts hat sich Erstaunliches getan. Die Krimi-Szene entwickelte sich im Ruhrgebiet und mit dem Bochumer Kriminalarchiv und dem Grafit Verlag auch darüber hinaus. Die besten crime novels erzählen als Großstadtliteratur mal subversiv mal süffisant von der kopflos lärmenden Region. Dafür stehen etwa die Romane von Karr & Wehner, Juretzka oder Deitmer. Parallel dazu mauserte sich eine weit ausstrahlende Kinder- und Jugendliteratur mit Autoren wie Banscherus oder Meyer-Dietrich. Und auch sie beleben die literarische Welt längs der Ruhr: Frank Goosen, das Essener „Schreibheft“, die Festivals der Literaturbüros oder das der Zeitschrift Macondo, das Dortmunder LesArt oder Reihen wie „Problemski Hotel“ im Mülheimer Theater.
Doch Autoren, Verleger, Literaturförderer haben es schwer an der Ruhr. Es mangelt an einer Kultur der Wertschätzung, auch der Literatur gegenüber. Was es an literarischen Initiativen gibt, entstand und entsteht zumeist trotz und nicht wegen der vorherrschenden Kulturpolitik. Suchen Sie einmal in den Edelbroschüren zur Kulturhauptstadtbewerbung 2010 nach Äußerungen zur Literatur. Sie werden nichts finden. So war das auch schon bei den Projekten der Internationalen Bauausstellung (IBA). Nur die RuhrTriennale durfte als Theaterfestival auch eine teure Literaturreihe starten und einen Strand in der Jahrhunderthalle aufschütten lassen, um dort ihr Projekt in den eigens angelieferten Sand zu setzen. 2005 warb die so genannte Literatur-Reihe mit Otto Schily und Rocklegende Patti Smith. Souverän? Peinlich? Das Ganze erinnert an Erich Regers Reportage „Ruhrprovinz“ von 1928: „Im Ruhrgebiet ist man aus Mangel an eigenen Ideen darauf angewiesen, Berlin zu kopieren. Nichts erscheint erstrebenswerter als die Imitation der Weltstadt-Mondänität.“
Angesichts der miserablen Erfahrungen mit einer immer neu variierten kulturpolitisch-konzeptlosen Modernisierung von oben, angesichts der Instrumentalisierung der Kunst im Rahmen von Standortkonkurrenz und Politikrepräsentation, angesichts der literaturpolitischen Versäumnisse und strukturellen Defizite im Ruhrgebiet: Gibt es auch sinnvolle Möglichkeiten, das literarische Leben im Ruhrgebiet zu entwickeln, ohne ihm Event-Imitate zu verordnen, die sowieso nur für durchreisende Kultur-Touristen gedacht sind? Welche Start- und Entwicklungshilfen könnten literarische Initiativen hierzulande endlich ermuntern statt sie weiter zu entmutigen? Der Glücksfall wäre sicher ein Europäisches Literaturhaus (oder Literaturnetz) Ruhr mit offenem, diskutablem Konzept. Wäre es politisch gewollt, ließe sich das leicht machen. Im Verhältnis zu Philharmonien benötigte es weniger Zuschüsse, wäre preiswerter und ein echtes Novum für das kulturelle Leben an der Ruhr. Daneben fehlen Ein- und Ausreisestipendien für Autoren. Wieso reisen gesponserte Stadträte, aber nicht auch gute Autoren nach Barcelona, New York oder Budapest? Und begabte Autoren aus aller Welt müssten längs für Wochen oder Monate an der Ruhr zu Gast sein. Mit etwas Glück, schreiben sie dann auch einmal über die Stadtlandschaft zwischen Duisburg und Dortmund, ihre Menschen, deren Scheitern, deren Aus- und Aufbrüche. Um Schriftsteller aber dauerhaft ans Ruhrgebiet zu binden, müssen sie hier Geld verdienen können, also: Mehr Auftragsarbeiten für Autoren. Größere Aufträge wie das Libretto für ein Fußballoratorium (Michael Klaus bei der Triennale) sind noch zu selten. Es fehlt zudem ein Preis für frische literarische Reportagen übers Ruhrgebiet.
Die Kulturhauptstadtbewerbung 2010 bietet eine Chance, auch für Projekte der freien Szene: Warum nicht die „Criminale“ der Krimiautoren-Vereinigung „Syndikat“ und das „Mord am Hellweg“-Festival 2010 zum Kooperationsprojekt machen? Damit würde man sowohl Autoren und Verleger der Region fördern als auch internationale Krimi-Stars dem Publikum hierzulande präsentieren können. Und zuletzt: „Mehr Licht! Die europäische Aufklärung neu gedacht“, ein Projekt, das – abseits allen Multikulti-Geschwätzes – die Werte und Visionen eines toleranten Kosmopolitismus erhellte, eine aufgeklärte Aufklärung weiterführte und den eurozentrischen Blick durch Welt- und Werteerfahrung mit Streitlust erweiterte.
Man sollte bei allem offenen Zugehen auf Wirtschaft und Politik nicht vergessen, dass Literatur eine Kunst bleibt, keine Litfaßsäule. Literatur ist nicht harmlos, sondern abgründig, unangepasst, sprachlich komplex und nicht immerzu eventkompatibel, also nicht jederzeit zu jedermanns Verfügung. Für die Literatur gilt: Dem Mythos vom Sponsoring für widerspenstige Kunst, die nur selten Massen anlockt, entspricht im Alltag der Kulturförderung leider nur wenig Gebefreudigkeit in Chefetagen. Jetzt, da auch die öffentliche Hand die Literaturförderung immer öfter simuliert statt stimuliert, wäre die Zeit reif, viel mehr eigene private Initiativen zu starten, um das Schreiben und Lesen an der Ruhr zu fördern. Oder, mit dem großen Lyriker Paul Celan gesprochen: Es wird Zeit, dass es Zeit wird. GERD HERHOLZ