Auf die Mischung kommt es an

Die Deutschpflicht auf dem Schulhof ist pure Notwehr. Schulen greifen zu solch untauglichen Mitteln, weil ihre Schülerschaft zu 90 Prozent aus Kindern von Zuwanderern besteht. Nicht die Bildungsminister, ganze Landesregierungen sind verantwortlich für „Deutsch als Fremdsprache auf dem Schulhof“

VON JENS GROSSPIETSCH

China zum Beispiel. Ich stelle mir vor, dass ein Chinese in seiner Zeitung Folgendes liest: In Berlin, Deutschland, bestimme die Schulordnung neuerdings, dass alle SchülerInnen auf dem Pausenhof dieselbe Sprache verwenden sollten – und zwar Deutsch. Die Lehrer würden die Einhaltung der Regel überprüfen. Der zeitungslesende Chinese würde sich womöglich die Augen reiben und es für eine Zeitungsente halten. Welche Sprache sollen deutsche Schüler denn sonst sprechen – wenn nicht Deutsch?

Das ist die Situationsbeschreibung, aus der Ferne betrachtet eine Groteske. Die Herbert-Hoover-Schule in der deutschen Hauptstadt erklärt Deutsch zur Pflichtsprache. Aus der Nähe besehen handelt es sich um eine Verzweiflungstat, was die Schulgemeinschaft an der Realschule im Bezirk Wedding beschlossen und den Lehrern zur Kontrolle übergeben hat. Seitdem rauscht die Debatte durch den Blätterwald. Sogar die Innenminister nehmen sich des Themas an.

Zum Kern des Problems würde man freilich vorstoßen, hielte man sich Folgendes vor Augen. Die Tatsache nämlich, dass die deutschen Muttersprachler in der absoluten Minderheit sind. Hätten alle Schulen, um die es jetzt geht, einen Anteil von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache unter 20 Prozent, dann gäbe es die Deutschpflicht und die Sehnsucht nach ihr nicht. Die eigentliche Frage ist die Konzentration von bestimmten Schülern an bestimmten Schulen. Dadurch werden Probleme geschaffen, die sich bei einer vernünftigen Mischung der Schülerschaft gar nicht erst ergäben. Auf die Mischung kommt es an – und das betrifft nicht nur die Sprache.

Wenn mehr als die Hälfte einer Schülerschaft nicht angemessen Deutsch sprechen kann – wer ist sprachliches Vorbild? Es bleibt dann nur eine Frage der Höflichkeit, Deutsch zu sprechen. Ansonsten können nicht alle Beteiligten dem Gespräch folgen. Sie fühlen sich ausgeschlossen, der Keim zu Ausgrenzung und Konflikt ist gelegt. Genauso problematisch ist es, wenn ich alle „sozial-emotional gestörten Schüler“ (so die offizielle Bezeichnung für verhaltensauffällige Schüler) in einer Schule oder Schulform konzentriere. Vorbild ist dort derjenige, der am meisten Unsinn anstellt. Versammle ich alle Hartz-IV-Empfänger an einer Schule, dann wird die Einrichtung eines Schulfördervereins zumindest finanziell fragwürdig. Und schulische Berufsfindungskonzepte für die Schüler gehen eines wichtigen Teils verlustig – der Besichtigung des Arbeitsplatzes der Eltern. Bringe ich alle Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern an einer Schulform zusammen – dann bin ich bei der Hauptschule, die in manchen Bundesländern genau jene Nachteilsmischung erzeugt, die niemand will.

Andere Schulbezirke und andere Schulformen werden natürlich froh sein, dass sie diese Probleme nicht haben. Eltern, die es sich leisten können, werden die Bezirke meiden oder nach Alternativen privater Art suchen. In Berlin ist all das geschehen. Es gibt viele Schulen mit über 75 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache. Es gibt Schulen, an denen mehr als die Hälfte das im Land Berlin verlangte Buchgeld nicht zahlen können oder Klassenfahrten von vielen nicht finanziert werden können. Der Staat springt ein – nach viel bürokratischem Aufwand.

Etliche der Probleme, mit denen heute zu viele Schulen ringen, ist die mangelnde Mischung der Schülerschaft. Es bringt wenig, wenn man dann noch auf jene Schulen mit dem Finger zeigt, die vielleicht umstrittene Maßnahmen zur vermeintlichen Linderung des Problems ergriffen haben. Erinnern wir die Politik lieber gemeinsam daran, dass sie endlich die Ursachen in den Blick rückt. Da gibt es sicherlich keine einfachen Rezepte. Aber vielleicht verhindert man alles, was das Problem noch verschärfen könnte. Das beginnt bei der Stadtentwicklung, geht über die Familien- und Wirtschaftspolitik und es endet irgendwann bei der Schulpolitik.

Nach dem Fall an der Berliner Hoover-Schule war Berlins Schulsenator Klaus Böger (SPD) ein gefragter Mann. Mehr als Interviews mit Bildungsministern hätten mich allerdings Gespräche mit deren Kabinettskollegen interessiert, die offenbar mit dem Thema nichts zu tun haben (wollen). In Berlin wäre es gut gewesen, Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) zu befragen oder die Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Deutsch als Fremdsprache auf dem Schulhof – das fällt nämlich eher in den Verantwortungsbereich ganzer Regierungen als in den der üblichen Verdächtigen aus dem Schulbereich. Ist es hilfreich, Wohnraum aus staatlichem Besitz in den „freien Wohnungsmarkt“ zu geben? Ist der Stadtentwicklung klar, dass sie großen Einfluss auf die mögliche Pädagogik in sozialen Brennpunkten hat? Tagen all die Kabinette mal gemeinsam und sprechen genau über dieses „schulpolitische“ Thema? In Berlin werden Mittel der Jugendhilfe gekürzt, Baumaßnahmen an Schulen reichen schon lange nicht. Wie oft muss ein normaler Mieter seine Küche renovieren? Wie lange werden Schulen in der Regel nicht gestrichen, hergerichtet, saniert?

An der Schulpolitik kann (und muss) man Kritik üben. Nur sollte deutlicher werden, dass die Kultusminister es dann schwer haben, wenn sie Probleme beheben sollen, die schulpolitisch allein gar nicht lösbar sind. Vieles von dem, was schulpolitisch in den letzten Jahren in Berlin und den anderen Ländern eingeleitet wurde, findet meine Unterstützung. Es geht in Richtung auf mehr schulische Betreuung, mehr unterrichtliche Qualität und leitet endlich eine Kooperation zwischen Schule und Jugendamt ein. Die Schulformdebatte hingegen wird zu halbherzig geführt. Denn die deutsche Schulgliederung erzeugt ja oft pädagogisch unvertretbare Schülermischungen.

Dies erlaubt uns Lehrern allerdings nicht, in eine jämmerliche Haltung zu verfallen und darauf zu warten, dass die Politik es richten wird. Was können wir tun, damit die uns anvertrauten Schüler möglichst gut lesen, schreiben, rechnen und sich demokratisch verhalten lernen? Wie können wir das Schulleben so gestalten, dass sich unsere Schüler angenommen fühlen? Wie bekommen wir bei dieser Zielsetzung Eltern und Schüler mit ins Boot? Wie können wir im Kollegium Kooperationsformen entwickeln, um die Qualität unserer Arbeit zu verbessern?

Genau das sind die zentralen Fragen, auf die wir uns konzentrieren sollten. Finden wir Formen schulübergreifender Kooperation wie etwa die Initiative von Reformschulen namens „Blick über den Zaun“, die sich gegenseitig besuchen und coachen. Die Schulen haben vergleichbare Grundsätze; aber durchaus unterschiedliche pädagogische Strömungen, unterschiedliche soziale Klientelen, sie reichen von der zweiklassigen Dorfschule bis zur Laborschule Bielefeld. Zwei Tage begutachten bis zu zwanzig Praktiker alles, was die Schule veranstaltet. Die kritischen Freunde geben sich Rückmeldungen, die nicht immer angenehm sind – aber konstruktiv.

Eine solche Zusammenarbeit würde vermutlich auch den jetzt so viel gescholtenen/gelobten Schulen mehr helfen als Ratschläge von Menschen, die schulisch schon lange nichts mehr bewegt haben. (Wir bezeichnen diese Experten mit Lehrerstudium aber ohne Schulklasse gerne als „Unterrichtsflüchtlinge“). Vor einer möglichen Kritik müsste sicherlich etwa anderes stehen. Die Bemühungen von Kollegium und Elternschaft der Hoover-Schule anzuerkennen, die den Schülern einen angemessenen Zugang zur deutschen Sprache ermöglichen wollten – trotz aller Schwierigkeiten.