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Archiv-Artikel

WARUM ICH DIESMAL „ICH“ SAGEN MUSS Das türkische Gefühl

DENIZ YÜCEL

Kolumnen sind immer subjektiv, sonst sind sie keine. Um subjektiv zu sein, muss man nicht zwingend „ich“ sagen. Diese Kolumne ist bislang gut ohne dieses Wort ausgekommen und wird es inschallah künftig auch wieder tun. Diesmal geht es nicht anders.

Es ist Dienstagnachmittag, ich sitze auf einer Dachterrasse im Istanbuler Bezirk Beyoglu, mit einer wunderschönen Aussicht auf das Goldene Horn. Zu diesem Seitenarm des Bosporus verläuft der Tarlabasi-Boulevard. Nach Westen hin mündet er auf den Taksim-Platz, nach Osten führt er auf die Unkapani-Brücke. Auf der anderen Seiten des Boulevards, diesseits des Goldenen Horns, liegt das alte Werftenviertel Kasimpasa, wo der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aufgewachsen ist.

Schon am Sonntagnachmittag hatte ich mich hierhin zurückgezogen. Es war der Tag nach der Räumung des Gezi-Parks, an dem Tausende versuchten, zum Taksim-Platz durchzukommen. Ich sah von hier aus, wie eine Guppe von vielleicht 1.000 Leuten mit einer bewundernswerten Ausdauer stundenlang dieses Areal zwischen einer Seitengasse der Einkaufsstraße Istiklal und dem Tarlabasi-Boulevard halten konnte. Immer wieder wurden sie mit Pfeffergas attackiert, und solange sie konnten, taten sie nichts anderes, als die Gaskartuschen zurückzuwerfen und einfach stehen zu bleiben. Ich sah, wie ein Polizist aus zwei Metern Entfernung ein Gummigeschoss auf eine Frau abfeuerte. Schließlich sah ich, wie eine Gruppe von AKP-Anhängern mit Knüppeln in Händen aus Kasimpasa auf den Boulevard kam. Wer diese und ähnliche Beobachtungen aufschreibt, gerät leicht in den Verdacht, einseitig zu berichten. Aber ein Gummigeschoss aus zwei Metern Entfernung auf einen Menschen abzufeuern, ist auch einseitig.

Warum bin ich hier? Nicht weil meine Zeitung mich beauftragt hätte. Ich wollte herkommen, weil ich zum ersten Mal überhaupt das Gefühl hatte, dass mein Platz nicht in Berlin ist.

Ähnlich erging es anderen Almanci-Kolleginnen, die ich hier getroffen habe. Und das gleiche Gefühl haben so gut wie alle meiner Almanci-Freunde und Kollegen, die nicht das Glück haben, eine Reise nach Istanbul mit ihren Jobs vereinbaren zu können.

Warum sie mit den Menschen hier mitfühlen?, habe ich einige von ihnen gefragt. Den meisten imponiert es, dass diese Bewegung das Potenzial hat, eine dritte Kraft neben dem Kemalismus und dem politischen Islam zu entfalten. Und manche betonen, dass der Kampf, den die Leute in der Türkei führen, mit Kämpfen in Deutschland beispielsweise gegen Mieterhöhungen zusammengehört.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag Ambros Waibel Blicke

Freitag Michael Brake Nullen und Einsen Montag Kübra Gümüsay Das Tuch

Dienstag Julia Seeliger Alles bio

Mittwoch Margarete Stokowski Luft und Liebe

Für uns Almanci ist die Türkei nicht irgendein Land. Es ist das Land, dessen Sprache wir (mehr oder weniger) gut sprechen, in dem wir Freunde und Verwandte haben. Wir können uns zur Türkei, zu diesem Teil der Türkei bekennen, ohne uns von irgendwelchen Sarrazins nach unserer „Integrationsbereitschaft“ ausfragen zu lassen – und ohne uns mit den Urlaubserinnerungen von gutmeinenden Deutschen befassen zu müssen.

Besser: Man ist hier.