Infizieren und ausschwitzen

Die Ausstellung „Kontaktbögen“ in der Akademie der Künste macht anhand der Fotografien von Einar Schleef noch einmal sichtbar, wie obsessiv sich der Regisseur selbst mit den Ablagerungen der eigenen Biografie beschäftigte

Die Ausstellung zeigt das Ablegen, Vergessen, Verstecken und Neuansehen

Kontaktbögen. Etwas in dem Wort klingt nach direkter Berührung, als hätte die Wirklichkeit das Bild gestreift. Tatsächlich sind die ersten fotografischen Vergrößerungen, auf die man in der Ausstellung „Einar Schleef. Kontaktbögen“ in der Akademie der Künste stößt, von Kratzern und Flusen zersetzt. Wie aus einem fragilen Stummfilm wirken die fortlaufenden und blassgrauen Aufnahmen von drei alten Frauen auf den Kontaktbögen darunter. Zwei sitzen auf der Bettkante in dicken Wollröcken, die dritte, im Bett, scheint fast in der Tapete zu verschwinden. Entstanden sind die Fotos 1965, aber sie sehen viel älter aus, so alt wie die Frauen selbst, als ob sich das Material mit den Fotografierten verbündet hätte.

Es waren die Nachbarinnen von Einar Schleef in Berlin-Weißensee. Dorthin war er mit 21 Jahren als Kunststudent gezogen. Die Frauen, kann man aus seinem später veröffentlichten Tagebuch erfahren, verbündeten sich mit seiner Mutter, versorgten ihn mit alten Möbeln und ahnten ziemlich genau, was los war, als er nach kurzer Zeit wegen Disziplinschwierigkeiten exmatrikuliert wurde. Diese Geschichte markiert ungefähr den Beginn seiner Karriere als Künstler, der berühmt dafür wurde, im heftigsten Gegenwind der Institutionen zu stehen, an denen er arbeitete. Die Kontaktbögen konnte der junge Schleef 1965 noch nicht als Teil eines umfangreichen Werkes sehen, in dem sich die eigene Biografie immer wieder mit deutscher Geschichte und Mentalitätsforschung aufs dichteste verhakeln sollte. Sie sind erst im Nachhinein zum zärtlichen Dokument der Erinnerung geworden.

Das Nebeneinander von Bildstreifen und einzelnen Vergrößerungen prägt die Ausstellung und das schöne Buch „Einar Schleef. Kontaktbögen“, das dazu im Verlag Theater der Zeit erschienen ist. Fast könnten es bei jeder Relektüre andere Motive sein, die aus den Ablagerungen an die Oberfläche steigen.

Schleef starb 2001, er hat nur einen Teil der Bilder selbst ausgewählt. Die Themen aber sind stimmig gesetzt, und man erkennt in ihnen die Obsessionen des Autors und Theaterregisseurs: Sein Interesse an den Nachbarinnen etwa legt schon eine Spur zu „Gertrud“, dem fast inkommensurabel dickleibigen Roman über seine Mutter, der sich auch in das Drama des Alterns und des Leidens am Verfall geradezu besessen stürzt.

Sangershausen, dem Dorf seiner Herkunft in Thüringen, sind zwei schwarzweiße Fotostrecken von 1970 und 1990 gewidmet. Dazwischen liegen der Weg des Künstlers in den Westen, wo er sich nie angenommen fühlte, und seine Arbeit am Theater in Frankfurt am Main. Streift der Blick über die winzigen Bilder der Kontaktbögen 1970, entfernt sich das Dorf Bild für Bild wie aus dem Rückfenster eines Wagens: Kopfsteinpflaster, verschneites Gestrüpp und kahle Bäume; das enge Geschiebe der Dächer, die gewundenen Straßenränder, an denen kein Auto parkt.

Die Bilder der Heimkehr 1990 wirken dann, als würde ein Film rückwärts laufen. Oft schlieft und schlurft der Blick über den Boden, vielleicht, weil er die Leere und Verlassenheit des Raums fürchtet, das vorwurfsvolle Schweigen der bröckelnden Fassaden. Straßenkurven, Schienenstränge, Bordsteinkanten zeugen von einer unruhigen Suche quer durch das Dorf. Liest man dann im Buch von den Vorwürfen der Mutter, die sich als Verlassene und Verratene sah, verändert sich das Verständnis der Bilder nochmals, und man sieht in ihnen jetzt die Rechtfertigungen für das Weggehen und Bußübungen für das Fernbleiben.

Die Ausstellung ahmt den Wechsel von Ablegen, Vergessen, Verstecken und Neuansehen nach. Es sind wieder hervorgekramte Bilder: In die Vergangenheit eintauchen, sich mit ihr identifizieren, infizieren und sie dann wieder ausschwitzen … – so schrieb Einar Schleef, und so setzte er auch die Fotos ein. Einige Bildkapitel sind unterwegs entstanden, in Spanien und in den USA. Einmal verfolgt Schleef den Weg eines Werbeplakats mit prächtig geformten Körpern in städtische Gegenden des Verfalls, wo der kalte Stein so viel zerbrechlicher wirkt als die warme Haut.

Zwei der Bildserien sind in Farbe und durch die Größe herausgehoben: „Kontaktbogen Tod 1988“ und „Kontaktbogen Wolken“. In beiden wird das Motiv metaphorisch, und der gesehene Moment weitet sich in eine Ahnung vom Ende und vielleicht eine Passage ins Jenseits. „Kontaktbogen Tod“ zeigt einen engen und geschlossenen Ort, eine U-Bahn-Station in Frankfurt, teils mit Nahaufnahmen, teils mit Bewegungsunschärfen. Man sieht auf die Gleise und vielleicht auf etwas Blut, man sieht einen Sanitäter und vermutlich den Schauplatz eines Selbstmordes.

Im „Kontaktbogen Wolken“ dagegen sind der Himmel und der unbegrenzte Raum das Motiv. Der Ausblick in malerische Wirbel, durchscheinendes Weiß und das Spüren der Sonne hinter den Wolken hängt an der Stirnwand der Ausstellung. Nur selten hat sich der Künstler solch ein Durchatmen erlaubt, solch schwärmerische Versenkung ins Offene. Man wünscht sich noch jetzt für ihn, es wären ihm mehr solcher Momente möglich gewesen. KATRIN BETTINA MÜLLER

„Einar Schleef. Kontaktbögen“, Bis 2. 4., Di.–So. 11–20 Uhr, Akademie der Künste am Pariser Platz. Das Buch von Harald Müller und Wolfgang Behrens, Verlag Theater der Zeit, kostet 28 €