: „Eine Mischung aus Realität und Fantasie“
Die Massenproteste in der muslimischen Welt haben wenig mit dem Abdruck der umstrittenen Karikaturen in Dänemark zu tun. Sie sind eher Ausdruck eines tief sitzenden Traumas der arabischen Welt, meint Daniel Cohn-Bendit
taz: Daniel Cohn-Bendit, ist jetzt der Kampf der Kulturen zwischen „dem Westen“ und den muslimischen Gesellschaften ausgebrochen?
Daniel Cohn-Bendit: Man sollte wohl eher vom Kampf der Unkulturen sprechen.
War es richtig von einer Reihe von Tageszeitungen, zuletzt von der Welt, die Karikaturen im Namen der Meinungsfreiheit abzudrucken?
Der Welt nehme ich diese Haltung nicht ab. Wenn es Karikaturen gewesen wären, die das Christentum oder das Judentum beleidigen, hätte das Blatt sie nicht gedruckt. Eine Zeitung wie Charlie Hebdo, die im Rahmen der Anti-Aids-Kampagne Christus mit einem Steifen und Pariser darauf am Kreuz sagen lässt, ich ficke nur mit Pariser, die kann auch Mohammed-Karikaturen drucken. Dieses ganze Sich-in-die-Brust-Werfen für Meinungsfreiheit hat bei uns einen strengen heuchlerischen Geruch. Andererseits gibt es Reaktionen wie die des Nestlé-Konzerns, der in der arabischen Welt eine Anzeige mit dem Tenor „Wir sind keine Dänen, wir sind Schweizer“ drucken ließ Ein Irrsinn. Lasst uns Luft aus der Sache nehmen.
Wie weit sollten hier von den Medien religiöse Gefühle gerade muslimischer Migranten berücksichtigt werden?
Hilft nicht weiter. Denn die fühlen sich genauso verletzt von den Karikaturen wie von den „Satanischen Versen“ von Salman Rushdie. Nehmen wir die Argumentationen von hier lebenden Muslimen, die mit einem Rekurs auf ihre religiösen Gefühlen die Evolutionstheorie ebenso ablehnen wie gemeinsame Klassenfahrten. Wir können als Einwanderungsgesellschaft darauf keine Rücksicht nehmen. Die jetzigen Massenaktionen in der muslimischen Welt haben mit dem Abdruck der Karikaturen in Dänemark gar nichts zu tun. Wer kennt sie, wer weiß etwas über Dänemark? In den muslimischen Gesellschaften gibt es Teile der Bevölkerung, die leicht gegen den Westen zu mobilisieren sind. Wenn sich die Fundamentalisten der Sache annehmen, dann rollen die Massendemonstrationen. Der geringste Anlass genügt.
Wenn die Karikaturen der Anlass sind, was ist die Ursache?
Offensichtlich entfernt sich ein Teil der muslimischen Gesellschaft immer mehr vom Westen. Wie groß dieser Teil ist, wissen wir nicht. Wir sehen nur die Demonstranten. Was die „schweigende Mehrheit“ denkt, bleibt uns verschlossen. Einigen Aufschluss geben Presseartikel in den muslimischen Ländern und Internetforen. Sie zeichnen ein gelasseneres Bild als das, das die Demos vermitteln.
Was ist der Grund für die zunehmender Entfernung? Gibt es ein Gefühl tiefer Kränkung?
Zumindest bei denen, die auf die Straße gehen. Ich glaube, dass die Wurzel dieser Kränkung in der Überzeugung besteht, dass die islamische, besonders aber die arabische Welt permanent von den USA, dem „Satan“ und den anderen westlichen Ländern unterdrückt wird.
Ist das eine Phantasmagorie, oder sprechen nicht Tatsachen für eine solche Weltsicht?
Es ist diese typische Mischung aus Fantasie und Realität. Das Schicksal der Palästinenser beispielsweise teilen nicht alle Muslime. Ich gebe ein nahe liegendes Beispiel. Während des ersten Golfkriegs konnte man bei uns den Eindruck gewinnen, die am meisten vom Krieg bedrohten Menschen seien nicht die Iraker, sondern die Deutschen.
Es ging darum, dass der Krieg wieder als legitimes Mittel für die Lösung politischer Konflikte angesehen wurde.
Aber im Bezug auf Deutschland und das angebliche Bedrohungsszenario war das eine Projektion.
Weiter zu den Ursachen. Du hast eine Parallele gezogen zwischen dem Trauma nach der Niederlage Frankreichs 1940 und dem Trauma der arabischer Staaten nach ihren Niederlagen gegen „den Westen“. Nicht zu weit hergeholt?
Ich wollte zeigen, dass in diesen beiden Fällen die Geschichte tiefe Narben hinterlassen hat. Und wie politische Machtgruppen solche Traumatisierungen für ihre Zwecke instrumentalisieren können. Im Iran beispielsweise gibt es zwei grundlegende schmerzliche Erfahrungen. Die eine aus dem Jahr 1953, als im Iran die nationalrevolutionäre Regierung Mossadeqh, die die Erdölquellen verstaatlichen will, durch einen Putsch gestürzt wird und der Schah zurückkehrt – alles mit Unterstützung des CIA. Die zweite Erfahrung rührt aus dem iranisch-irakischen Krieg Anfang der 80er-Jahre. Er zeigte, wie verletzlich die Souveränität des Irak war. Vor allem aber, dass der Angriff Saddam Husseins mit Unterstützung der USA und einiger Westmächte durchgeführt wurde. Der Krieg kostete den Iran eine Million Menschenleben. Aus diesen Erfahrungen haben viele Menschen im Iran den Schluss gezogen, dass ihr Land nie wieder leichtes Opfer solcher Interventionen werden soll. Die atomare Bewaffnung Frankreichs, die „Force de Frappe“, ist ein Ergebnis der französischen Traumatisierung. Der Griff nach der Atomwaffe im Iran kommt aus einer ähnlich gelagerten Erfahrung.
Muss man den Streit um die Anreicherung von Uran nicht trennen von den gegenwärtigen Massendemonstrationen?
Beides geht in der Realität zusammen. Auch die Franzosen haben ihre Souveränität, ihre nationale Unabhängigkeit an das Atom geknüpft – mit den Waffen ebenso wie mit den Atomkraftwerken. Es geht nicht darum, dass ich diese politischen Entscheidungen akzeptieren würde. Natürlich akzeptiere ich sie nicht. Mir kommt es darauf an, zu zeigen, wie reale Geschichte sich in den Köpfen der Menschen verselbstständigt. Es entsteht eine subkutane Gefühlslage. Die kann von interessierten Machthabern ausgenutzt werden.
Wie kann jetzt Deeskalation funktionieren? Sind Sicherheitsgarantien für den Iran ein gangbarer Weg?
Sicherheitsgarantien, die alle Staaten des Nahen Ostens einschließlich Israels betreffen würden, wären eine denkbare Lösung. Die Frage ist doch nur: Wer vertraut solchen Garantien? Wem vertraut die iranische Regierung. Den Demokratien des Westens bestimmt nicht. Wird sie Putin oder den Chinesen vertrauen? Ich finde, der Vorschlag der Grünen, die gesamte Anreicherung von Uran unter internationale Kontrolle zu stellen, ist ein gangbarer Weg. Die Frage der iranischen Souveränität würde dann nicht mehr so tangiert wie jetzt. Wir müssen bedenken, dass auch die Anreicherung zu friedlichen Zwecken zu den souveränen Rechten gehört, nicht aber der Bau von Bomben unter der Maskerade der friedlichen Nutzung.
Was passiert, wenn der Iran nicht auf Putins Vorschlag einer Anreicherung auf russischem Boden eingeht?
Die schrecklichste Option ist die Kriegsoption seitens der USA, aber die ist nicht realistisch. Die Besetzung des Irak ist aus offensichtlichen Gründen kein Modell, die Welt imperial neu zu ordnen. Wenn alle Versuche, das Anreicherungsprogramm des Iran zu kontrollieren, scheitern, dann werden wir wieder eine neue Form des Gleichgewichts durch Abschreckung haben. Aber wie sicher ist diese Art von Frieden? In der Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan waren wir schon einmal nur um Haaresbreite vom Atomkrieg entfernt. Die zentrale Frage bleibt: Ist ein Regime, das dem religiösen Fundamentalismus folgt, in der Lage, nach rationalen Kriterien zu handeln?.
INTERVIEW: CHRISTIAN SEMLER