: Gegen den heiligen Ernst des Kulturbetriebs
NACHRUF Er war einer der Großen der französischen Literatur: Der Schriftsteller und Verleger Maurice Nadeau ist tot
Durch seine „Geschichte des Surrealismus“, die 1965 in „rowohlts deutscher enzyklopädie“ 20 Jahre nach der französischen Ausgabe auch auf Deutsch erschien, beeinflusste er den intelligenteren Teil einer ganzen Generation. Maurice Nadeau zeigte darin, dass es auf der Ebene des Widerstands noch etwas anderes gab als die Politik der Kommunisten, eine andere Tradition, nämlich eine Bewegung, die auch ästhetisch etwas zu bieten hatte, die polemisch, radikal, unversöhnlich war, die in ihrem possenhaften und theatralischen Auftreten dem heiligen Ernst des etablierten Kulturbetriebs die Luft herausließ und die neue Maßstäbe in der Beurteilung von Literatur setzte, in der es nicht darum ging, wie André Breton schrieb, „auf Hunderten von Seiten mit den nichtssagendsten Schilderungen kleinlicher Dinge und der Darstellung völlig uninteressanter Personen“ das Publikum zu langweilen. Vielen jungen Menschen, die sich damals auf der Suche befanden, eröffnete sich in diesem Buch ein anderer Kosmos, in dem Existenz und Literatur zusammenschmolzen, sie hörten zum ersten Mal von Surrealisten wie Jacques Vaché, Arthur Cravan oder dem Comte de Lautréamont, die wenig geschrieben hatten, aber deren kurzes Leben spannender war als die gesamte Bibliothek, die die Eltern im furnierten Einbauwohnzimmerschrank hatten.
Maurice Nadeau war zeit seines langen Lebens von 102 Jahren an einer Literatur interessiert, die sich auseinandersetzt mit dem „Sichselbstbegreifen in einer Welt, die sich rasend schnell verändert“, die sich beschäftigt mit einer „Gesellschaft, die nicht recht weiß, wohin sie geht“. 1930 schloss er sich der KP an und wurde wenig später wieder ausgeschlossen, weil er Trotzki gelesen hatte. Er war in der Résistance aktiv und in der Nachkriegszeit sieben Jahre lang Mitarbeiter der von Albert Camus geführten Zeitschrift Combat. Trotz seines Kampfes gegen die Nazis wurde er in der Nachkriegszeit zu einem Fürsprecher deutscher Literatur in einem Frankreich, das sich von der Außenwelt abschottete, weil es sich als Grande Nation für etwas Besonderes hielt. Er gab Enzensberger heraus, Arno Schmidt und Walter Benjamin, er holte große internationale Literatur nach Frankreich wie Henry Miller, Jack Kerouac und Gombrowicz, er setzte sich für die „Reise ans Ende der Nacht“ ein, weil für Nadeau die literarische Qualität entscheidend war und nicht die Tatsache, dass dessen Autor Louis-Ferdinand Céline ein Faschist und Antisemit war. Er schrieb mit „Proteus“ einen Kanon des französischen Romans der Nachkriegszeit bis zu den Sechzigern. In der von ihm gegründeten Literaturzeitschrift La Quinzaine litteraire ermöglichte er Michel Foucault den Durchbruch. Die Mitarbeiter und Autoren waren das Who’s who der französischen Literatur. In seinem 1984 gegründeten Verlag veröffentlichte er Houellebecqs ersten Roman „Ausweitung der Kampfzone“, lehnte seine Gedichte jedoch ab.
Am vergangenen Wochenende ist Maurice Nadeau in seiner Wohnung in der Nähe vom Centre Georges Pompidou gestorben. KLAUS BITTERMANN