: Die Insel der Wohltat
Alle 14 Tage hoffen nichtversicherte Kranke in Arlington auf das große Los: Die Gewinner bekommen eine kostenlose Behandlung
■ 45 Millionen Menschen in den USA haben keine Krankenversicherung. Die Gesundheitsreform sollten diesen Nichtversicherten Zugang zu medizinischer Versorgung verschaffen. Sie war ein zentrales Anliegen von Barack Obamas Kampagne. Doch bislang ist die Reform gescheitert. Um die Fundamentalopposition der Republikaner zu brechen, organisiert Obama am heutigen Donnerstag einen „Gesundheitsgipfel“ im Weißen Haus. Er hat Politiker der Opposition zu einem „2-Parteien-Gipfel“ eingeladen, um sie – vor laufenden Fernsehkameras – für die Reform zu gewinnen. (dora)
AUS ARLINGTON, VIRGINIA, DOROTHEA HAHN
Christian Halvorsen stützt sich mit der rechten Hand an der kalten Hausfassade ab. Das Gleichgewicht. Zum dritten Mal in diesem Winter steht er in der Warteschlange vor dem Neubau. Vor und hinter sich erkennt er mehrere Gesichter. Darunter das Ehepaar aus Äthiopien. Die kleine Frau, Verkäuferin in einem Supermarkt, steht noch gekrümmter als beim letzten Mal. Sie hat Rückenschmerzen. Ihr hagerer Mann hat Beulen auf der Brust. Auch der blasse, große junge Mann mit Krücke, der früher Turnlehrer war, ist nicht zum ersten Mal da. Seit seinem Autounfall ist seine Familie hoch verschuldet. An diesem Morgen steht er ein paar Plätze hinter Christian Halvorsen.
Achtzig Menschen warten zwischen den Schneeresten auf dem Trottoir vor dem Neubau mit der Nummer 2921 an der 11. Straße in Arlington. Sie hoffen auf eine Lotterie. Wer gewinnt, bekommt kostenlose medizinische Betreuung.
Zweimal im Monat nimmt die „Freeclinic“ neue Patienten auf. Voraussetzung: Sie haben keine Versicherung, sie verdienen weniger als 20.000 Dollar im Jahr, und sie leben in Arlington. Die Gemeinde auf der Südseite des Potomac-Flusses – direkt gegenüber von Weißem Haus und Kapitol – ist eine beliebte Wohngegend. In Arlington gibt es kleine Häuser mit frisch lackierten Veranden und luxuriöse Wohnanlagen, das Verteidigungsministerium, den Ronald-Reagan-Flughafen, den Nationalfriedhof und die geschäftige Hochhaussiedlung Crystal City. An diesem Morgen hat die Freeclinic 21 Plätze für kostenlose ambulante Behandlungen zu vergeben.
Jobverlust in der Krise
In der Schlange vor der Freeclinic von Arlington warten Menschen aus Afrika, Asien und zahlreiche Lateinamerikaner. Viele haben in der Krise ihren Arbeitsplatz und gleichzeitig ihre Krankenversicherung verloren. Andere arbeiten zwar, sind aber nie versichert gewesen.
Christian Halvorsen ist einer der wenigen weißen US-Amerikaner in der Schlange. „Ich habe Diabetes, hohen Blutdruck, kaputte Nerven, und mein Augenlicht schwindet“, zählt der 58-jährige auf. Früher war er Manager in einem Restaurant in Philadelphia. Und hatte „einen guten Lohn“. Vor zwei Jahren beginnt sein Abstieg. Er wird krank. Ihm wird ein Zeh amputiert. Dann ein weiteres Stück seines linken Fußes. Er kann nicht mehr stehen. Er verliert seinen Job.
Zunächst besaß Christian Halvorsen noch eine Krankenversicherung. „Mein Boss war nett“, erzählt der blonde Mann: „Er zahlte weiter, obwohl ich nicht mehr für ihn arbeitete.“ Doch im vergangenen Jahr verschlechterte sich seine Lage. Weil ihm die eigene Wohnung in Philadelphia zu teuer wird, zieht er zu seinem Bruder nach Washington, wo er keine Miete zahlen muss. Der ehemalige Chef streicht die Beiträge an die Krankenkasse. „Die Krise macht eben auch der Gastronomie schwer zu schaffen“, sagt der kranke Arbeitslose. Seit September muss er die 700 Dollar für sein monatliches Insulin und andere Medikamente aus der eigenen Tasche zahlen. Er benutzt das Wort „Glück“, als er über seinen letzten Besuch bei einem Facharzt spricht. Der Arzt, der normalerweise 260 Dollar pro Behandlung kassiert, berechnete ihm nur 40. Für die von dem Arzt verschriebenen weiteren Untersuchungen hat Halvorsen dann trotzdem kein Geld mehr. Auch die nächste Verschlechterung seiner Lage ist schon absehbar: Seine Arbeitslosenunterstützung läuft aus.
Die Freeclinic von Arlington ist eine wohltätige Insel. ÄrztInnen, Krankenschwestern, PsychologInnen und KrankengymnastInnen haben sie gegründet. Die meisten waren bei ihrer Arbeit mit Patienten konfrontiert, die nicht zahlen konnten. 1993 – als an zahlreichen anderen Orten der USA ebenfalls Freeclinics entstanden – eröffneten sie die Freeclinic von Arlington. Seither spenden Privatleute und Unternehmen Geld. Krankenhäuser stellen kostenlos Geräte zur Verfügung. Und 160 Menschen arbeiten ehrenamtlich als volunteers. Sie schenken der Freeclinic jeden Monat ein paar Stunden oder mehrere Tage ihrer Arbeitszeit. Mit einem Jahresbudget von nur 2 Millionen Dollar schaffen sie es, 1.600 Patienten langfristig zu behandeln. Auf sämtlichen medizinischen Fachgebieten.
Die Idee mit der Lotterie
Jody Steiner Kelly war jahrelang volunteer. Heute ist die 49-Jährige eine von 20 Festangestellten der Freeclinic von Arlington und zugleich Verwaltungschefin. Im Oktober 2008 erlebt sie, wie sich die Zahl der Patienten über Nacht verdoppelt. „Schon vor der Krise konnten wir nur jeden zweiten Patienten annehmen“, sagt sie, „doch seither müssen wir drei von vier Antragstellern ablehnen.“ Die Frage, wer behandelt wird und wer nicht, wird zur Gewissensprüfung. „Wenn wir nur Schwerkranke annähmen, wäre unsere Struktur schnell überlastet“, sagt Jody Steiner Kelly: „außerdem ist es nicht einfach, zu entscheiden, wer am meisten leidet.“ Die Freeclinic kommt auf die Idee mit der Lotterie.
„Jeder hat die gleiche Chance“, sagt Jody Steiner Kelly mit lauter Stimme in den Wartesaal hinein. Auf grünen und eierschalfarbenen Hockern sitzen achtzig Menschen vor ihr. Am frühen Morgen hat jeder am Eingang der Freeclinic einen grünen Zettel mit einem Buchstaben bekommen. Punkt 10.30 Uhr hat eine volunteer den Wartesaal von innen abgeschlossen. Die Buchstabenausgabe ist abgeschlossen. Die Lotterie beginnt. Jody Steiner Kelly hält mit der linken Hand einen kleinen Plastikbehälter über ihren Kopf. Mit der linken Hand fischt sie darin. In dem Plastikbehälter befinden sich Zettel mit den 26 Buchstaben des englischen Alphabets. Achtzig Augenpaare richten sich auf sie. Im Saal herrscht angespannte Stille.
Christian Halvorsen rollt seinen grünen Zettel zwischen den Fingern. Er hat den Buchstaben „R“. Noch vor einem Monat war er sich „so gut wie sicher“, dass Präsident Barack Obama die Gesundheitsreform gelingen würde, für die er ihn gewählt hat. Doch Ende Januar kam eine Nachwahl in Massachusetts dazwischen. Die Republikaner gewannen. Und das Gewicht im Senat verschob sich zu ihren Gunsten. Und jetzt ist die Gesundheitsreform, an der schon mehrere Generationen von US-Präsidenten gescheitert sind, wieder gefährdet. Vorerst gibt Christian Halvorsen seine Hoffnung noch nicht ganz auf. „Obama wird schon noch etwas hinkriegen“, sagt er. Aber so lange kann er mit seiner eigenen Behandlung nicht warten. „Es wird frühestens in zwei oder drei Jahren klappen“, meint er, „und es wird nur noch ein Schatten der ursprünglich geplanten Gesundheitsreform sein.“
Nacheinander zieht die Verwaltungschefin der Freeclinic sechs Buchstaben aus dem Plastikbehälter über ihrem Kopf. Ihre Kollegin Marietha Mayen steht daneben und erklärt auf Spanisch, dass die Verlierer dieses Tages in zwei Wochen eine neue Chance haben werden. In dem Heer der 45 Millionen Nichtversicherten der USA sind die Einwanderer aus Lateinamerika besonders stark vertreten.
Jedes Mal, wenn die Verwaltungschefin einen Buchstaben zieht, erheben sich mehrere Personen und gehen zum Schalter. Dort bekommen sie Termine für ihre Behandlung. Um 11.15 Uhr ist die Lotterie zu Ende. Alle 21 Plätze sind vergeben. Christian Halvorsen geht leer aus. Auch sein dritter Versuch ist gescheitert. „Ich werde es am 2. März wieder versuchen“, sagt er gefasst.
Kein Protest
Mit ihm verlassen 59 andere Menschen die Freeclinic. Niemand protestiert. Die Verlierer wissen, dass die Freeclinic ihre einzige Chance ist, eines Tages vielleicht doch noch eine Behandlung zu bekommen. Unter ihnen ist auch die 50-jährige Bolivianerin Maria. Sie hat Gebärmutterkrebs. Seit einem Jahr findet ihr Mann keine Arbeit mehr. Das Baugewerbe ist zusammengebrochen. Jetzt muss sich die Familie bei ihren Ausgaben zwischen Wohnen, Essen und Gesundheit entscheiden. Maria klammert sich fest an ihren braunen Poncho. Mit gesenktem Blick geht sie auf die 11. Straße hinaus. Auch der 23-jährige Dennis hat den falschen Buchstaben gezogen. Die Operationen nach seinem Autounfall im vergangenen Herbst haben ihm den linken Arm, das linke Bein, die Blase und die Leber gerettet. Doch für die Folgebehandlung hat die Familie des früheren Sportlehrers kein Geld mehr. Dennis muss an seiner Krücke nach Hause humpeln.
„Unsere Patienten sind von vielfachem Pech getroffen“, sagt die Krankenschwester Jyl Pomerol. Nicht nur, dass sie weder Arbeit, Versicherung noch Geld haben, erschwerend kommt hinzu, dass ihr „amerikanischer Traum gescheitert ist: Sie hatten geglaubt, das Schwierigste wäre, nach Amerika zu gelangen, und danach wären die Straßen mit Gold gepflastert. Jetzt stellen sie fest, wie schwer das Leben hier ist.“ Jyl Pomerol ist auf Psychiatrie spezialisiert. In der Freeclinic beobachtet sie, dass die meisten Patienten neben körperlichen auch schwere seelische Probleme haben. Unter diesen Patienten sind viele Immigranten.
Der 30-jährige Antonio hat seinen amerikanischen Traum fast 15 Jahre lang geträumt. Er kam als Jugendlicher aus Guatemala nach Washington. Hat als Maler und als Tischer gearbeitet. Manchmal haben seine Bosse ihn versichert. Meistens nicht. Aber das hat ihn nie gekümmert. „Dank Gott“, sagt er, „war ich nie krank.“ Mit der Krise verlor er seine letzte feste Stelle und mit ihr jede Aussicht auf eine Krankenversicherung. Als vor drei Monaten seine Magenschmerzen begannen, hat Antonio einen Arzt aufgesucht. Er kostete 170 Dollar. Die 1.500 Dollar für weiterführende Tests konnte er sich nicht leisten.
An diesem Vormittag im Februar strahlt Antonio. Der Buchstabe „C“ hat ihm Glück gebracht. Er wird Patient der Freeclinic. Das Ehepaar aus Äthiopien sitzt ein paar Hocker weiter im Wartesaal. Auch die Frau hat sich gerade als Patientin einschreiben dürfen. Ende der Woche hat sie einen ersten Termin wegen ihrer Rückenschmerzen. Ihr Mann hatte Pech bei der Verlosung. Seine Beulen auf der Brust müssen warten.