: Das glasklare Sozusagen
Die diesjährigen Brecht-Tage drehen sich um „Krise und Kritik“, die Veranstaltungen bereiten das Erscheinen einer Zeitschrift vor. Die Diskussion am Mittwochabend versackte leider recht ziellos
VON JÖRG SUNDERMEIER
Walter Benjamin fiel es 1931 noch leicht, das, was die Zeitschrift Krise und Kritik werden sollte, zu umreißen: „Das Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige Krise auf allen Gebieten der Ideologie, und die Aufgabe der Zeitschrift ist es, diese Krise herzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik.“ Die Zeitschrift allerdings, die, herausgegeben von Walter Ihering, im Rowohlt Verlag erscheinen sollte, und an der Bertolt Brecht und Benjamin mitwirken sollten, wurde nie produziert – obschon der vorgesehene Autorenkreis mit Döblin, Musil, Piscator, Adorno, Eisler, Lukács oder Korsch außerordentlich viel versprechend war.
Diesem Zeitschriftenprojekt sind die diesjährigen Brecht-Tage gewidmet, die heute zu Ende gehen. In dieser Woche sollte versucht werden, nun, 75 Jahre später, eine Zeitschrift dieses Titels erscheinen zu lassen. Die Veranstaltungen sind dazu die öffentliche Vorarbeit. Heute Abend etwa wird der Film „Sind Sie damit zufrieden?“ gezeigt, in dem sich Richard Sennett, Sophie Freud, Diedrich Diederichsen und Noam Chomsky zu Kritik und Krise äußern, anschließend diskutieren Guillaume Paoli, Robert Misik und Thomas Martin darüber.
Am Mittwoch zeigte sich jedoch, dass es heute alles andere als leicht ist, die Begriffe Kritik, Ideologie, die Linke oder Generation zu benutzen, weil sie nicht mehr eindeutig definiert sind. Jeder versteht sie anders, weswegen dank dieser Worte auch eine Einvernehmlichkeit zwischen Leuten entstehen kann, die sich eigentlich streiten müssten. Der Philosoph Hugo Valerde moderierte im Brecht-Haus eine Runde zum Thema „Krise und Kritik in der Generationenfolge“, doch schon sein Einstiegsvortrag, der den Generationenbegriff erläutern sollte, war von der permanenten Benutzung des Worts „sozusagen“ so entstellt, dass man schwerlich folgen konnte. Danach stellte sich umgehend das besagte Einvernehmen ein.
Kathrin Tiedemann, die das Düsseldorfer Forum Freies Theater leitet, widersprach der Linkspartei-Vorständlerin Katja Kipping nicht, als diese meinte, Kunst sei nichts anderes als „die ästhetische Form von Kritik“. Stattdessen rief Tiedemann die Gruppe 47 und die 68er als Beispiele für „Generationen“ auf, die die vorhergehenden ablösten, dabei aber, wie die Gruppe 47, allen vor den Nazis geflohenen Schriftstellern genauso das Wort abschnitten wie jenen, die den Nazis zugearbeitet hatten. Dass sie mit diesem westdeutschen Beispiel auf Velardes Beispiel, den DDR-Dichter Thomas Brasch, antwortete, offenbarte, dass bereits im kleinen Rahmen „Deutschland“ verschiedene Generationenbegriffe herrschen. Kipping agierte zugleich als Aktivistin und Parteisoldatin, die ausschließlich im institutionellen Arbeiten eine Chance sieht, nicht machtlos zu bleiben. Tiedemann wiederum konnte als Theaterfrau einen derart simplen Aktionismus nicht präsentieren.
Andreas Fanizadeh, der Vierte in der Runde, versuchte mit Beispielen zu belegen, dass „kritisch sein“ nicht zwangläufig heißen müsse, die Krise zu analysieren. Es war ein Versuch, das Gespräch zu retten. Doch seine Beispiele, die Mohammed-Karikaturen und die Lage im Irak, führten leider dazu, dass die Diskussion endgültig entglitt: Die Zuschauer reagierten aufgebracht. Publikumsäußerungen wie „Die sind ja auch nicht dumm“ (über Muslime) oder „Ohne Ideologie ist alles verloren“ nahmen der Veranstaltung jedes Niveau. Ein junger Mann, der schlicht gegen alles sein wollte, wurde von Fanizadeh mit dem schönen Satz „Auf welche Insel willst du denn?“ abgefertigt, leider jedoch nicht zum Schweigen gebracht. Das Publikum, egal ob ost- oder westsozialisiert, forderte Handlungsanleitungen und Führung. Es wollte von einem Staat oder einer Bewegung den Hintern gewischt bekommen, sich dabei aber emanzipiert halten dürfen. Kritik im Benjamin’schen Sinne störte da nur.
Angesichts dessen blieb Kipping nur übrig, das armselige Fazit zu ziehen, dass man „schon was machen“ könne. Währenddessen schauten einen von der Wand Jugendliche auf Fotografien von Franziska Hauser an. Sie hatte die 15- bis 25-Jährigen als nachwachsende Generation zu ihren Vorstellungen von Kritik befragt. Die Antworten entsprachen den Diskussionsbeiträgen aus dem Publikum. Entweder war für die Jugendlichen „die Politik“ oder gar „die Kritik“, die das Positive verdränge, an allem schuld. Die dümmste Antwort gab ein 18-jähriges Opfer, ein Abiturient, der auf die Frage, ob er etwas ausrichten könne, schlicht „Nein“ sagte.
Heute, 20 Uhr: Film „Sind Sie damit zufrieden?“, anschl. Diskussion mit Guillaume Paoli, Robert Misik, Thomas Martin; Chausseestr. 125