: Aggressive Toleranz
Hinter der Karikaturen-Affäre steckt mehr als ein Konflikt zwischen islamischer Intoleranz und westlicher Meinungsfreiheit. Sie zeigt das europäische Problem mit der Integration
Die Affäre um die dänischen Karikaturen ist ein erschreckender Karneval der Dummheit, Heuchelei und der inszenierten Ausschreitungen – und ein Warnsignal, dass uns Schlimmeres droht. Selbst wenn der Aufruhr seinen Höhepunkt bald überschritten haben sollte, ist die Welt danach ein gefährlicherer Ort.
Das Seltsamste ist jedoch, dass die Lunte so langsam brannte. Bereits vor vier Monaten hatte die Kopenhagener Zeitung Jyllands-Posten die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht, die von dürftigem Witz, aber dafür umso taktloser waren. Ihre Aktion war eine gewollte Provokation. Und tatsächlich führte sie zu ein paar kleinen Demonstrationen wie auch zu Morddrohungen gegen die Karikaturisten.
Dennoch hätte man das Unheil eindämmen können. Den entscheidenden Fehler machte der dänische Ministerpräsident Rasmussen, indem er die Proteste der dänischen Muslime leichtfertig beiseite wischte. Anschließend weigerte er sich, die Botschafter der islamischen Staaten zu empfangen, die eine Strafverfolgung der Zeitung forderten. Und die berichteten dann zu Hause von der „dänischen Unnachgiebigkeit“.
Ende Oktober sickerten die Karikaturen über E-Mails und alle möglichen Websites und ergänzt um düstere „Verfolgungs“-Geschichten in den weltweit zirkulierenden Kreislauf der Medien in der islamischen Welt. Ende letzten Jahres reiste eine Delegation von dänischen Imamen, die wahlweise als „Extremisten“ oder als „Konservative“ bezeichnet werden, nach Saudi-Arabien und Ägypten. Dort führten sie eine Mappe mit „blasphemischen“ dänischen Karikaturen vor, die auch pornografische Darstellungen enthielt, die in Dänemark bis dahin unbekannt waren.
Weitere diplomatische Proteste wurden in Kopenhagen ignoriert. Doch in Saudi-Arabien begann Ende Januar eine Boykottkampagne gegen dänische Produkte, und am 26. Januar wurde der saudische Botschafter in Dänemark zurückberufen. Im Sog der saudischen Kampagne drängte die Wut auf die Dänen in der gesamten islamischen Welt auf die Straße.
Aber ist dies wirklich ein moralischer Konflikt, in dem sich islamische Intoleranz und die Meinungsfreiheit in demokratischen Gesellschaften gegenüberstehen? „Freiheit, geh zur Hölle“ konnte man auf einem Plakat in London lesen, oder: „Wer den Islam schmäht, wird abgeschlachtet“. Das waren unerträgliche Slogans, zumal in Großbritannien, wo bislang erstaunlicherweise keine einzige Zeitung die Karikaturen nachgedruckt hat. Aber die Motive sind weniger eindeutig. Auf beiden Seiten, und nicht nur in der muslimischen Öffentlichkeit, versuchen ehrgeizige Agitatoren, die aufgestauten Gefühle der Unsicherheit und der Bedrohtheit bauchrednerhaft zu artikulieren und auszubeuten. Und dabei ging es ihnen keineswegs nur darum, ihre Prinzipien zu verteidigen.
Jede europäische Generation muss die Meinungsfreiheit neu erkämpfen und verteidigen – doch auf keinen Fall mit einer Art „neokonservativer“ Präventivschlag-Doktrin. Wer des Lesens mächtig ist, weiß, dass sich auch fromme Muslime, die nicht unbedingt „Extremisten“ oder „Dschihadisten“ sind, durch eine Abbildung des Propheten zutiefst verletzt fühlen. Die dänische Zeitung hat also etwas publiziert, von dem sie wusste, dass (wenn auch nicht in welchem Maße) Muslime sich provoziert fühlen würden. Und dies nur, um mit ihrer „Liberalität“ zu protzen. Das war unverzeihlich.
Alle Rechte – auch das auf Pressefreiheit – beinhalten zugleich das Recht zu entscheiden, wann wir sie in Anspruch nehmen. Diese Entscheidung kann etwa von Common Sense oder auch von Vorsicht geleitet sein. Ich mag das Recht haben, eine Zigarette neben einem Stapel undichter Benzinfässer wegzuwerfen, aber wahrscheinlich werde ich es nicht tun, und wenn ein Feuer ausbricht, werde ich dafür strafrechtlich belangt. Ein solcher Akt war auch die Publikation beleidigender Mohammed-Karikaturen in einer Zeit, in der uns schon Selbstmordattentate und fanatische Mörder, ein US-geführter Krieg im Irak und weitere Kriegsdrohungen zu schaffen machen.
In den unruhigen 1960er-Jahren verkündete Herbert Marcuse seine Theorie der „repressiven Toleranz“. In Dänemark wie in den Niederlanden ist mit der Toleranz etwas schief gegangen, aber sie ist weniger repressiv als vielmehr aggressiv geworden. Diese beiden kleinen Länder hat man immer als gesittete, liberale Gegenden gesehen, wo die Demokratie tief verwurzelt ist. Und wo die Menschenrechte und die individuellen Freiheiten so umfassend respektiert werden, dass die ganze Welt sie dafür bewundert. Unvergessen bleibt, wie die Dänen unter der Nazi-Besatzung ihre Juden retteten und wie offen die Holländer für neue Lebensformen und Gegenkulturen waren. In beiden Ländern gehörte die Vorstellung, Toleranz zu praktizieren, zu ihrer Identität dazu. Doch gerade die ist jetzt zum Problem geworden. Der Zustrom neuer Einwanderer, vor allem aus Nordafrika und Asien, scheint für ihre nationale Kultur bedrohlicher zu sein, als dies bei den größeren europäischen Nachbarstaaten der Fall ist. Plötzlich stellt sich heraus, dass es schwierig ist, eine offene Gesellschaft mit anderen zu teilen.
Auf einer Konferenz in Kopenhagen hörte ich kürzlich einen dänischen Professor sagen, sein Land habe Schwierigkeiten, Differenz zu akzeptieren, das heißt andere Arten des Dänischseins: „Dieses Land ist gut damit gefahren, dass es sein monoethnisches Modell bewahrt hat. Und jetzt tut man sich mit Veränderungen schwer.“ Und Mandana Zarrehparvar vom Dänischen Institut für Menschenrechte, Tochter eines Iraners, meinte: „Die Integration ist in Dänemark gescheitert. Es gibt keine Moscheen, keine muslimischen Friedhöfe, keinen Muslimischen Rat. Dänemark bildet sich ein, eine monokulturelle Gesellschaft zu sein, die es nicht ist.“
Die Idee der multikulturellen Gesellschaft verliert in beiden Ländern rapide an Boden. Die Fremden, heißt es heute, müssen assimiliert werden oder ihr Gastland verlassen, ehe sie es überschwemmen. In beiden Ländern behauptet man paradoxerweise, die Maßnahmen gegen die Immigranten dienten in Wahrheit der Verteidigung der Toleranz: Der Islam sei seinem Wesen nach intolerant, also unvereinbar mit dem eigenen Wertesystem.
Die dänische wie die niederländische Gesellschaft kämpfen mit einer Identitätskrise. Und um sich ihrer Identität zu vergewissern, die sich angeblich um den zentralen Wert Toleranz kristallisiert, müssen sie sich anscheinend gegenüber „den Anderen“, die verschieden sind, intolerant verhalten. Aber ist es wirklich die Angst vor dem Islam, vor dessen Ablehnung jeglicher Kritik und dessen Widerspenstigkeit gegenüber dem liberalen Gedankengut der Aufklärung? Oder handelt es sich im Grunde nur um die feindselige Haltung einer alteingesessenen Gemeinschaft gegenüber fremden Eindringlingen, die das Familienanwesen mit den Einheimischen teilen wollen?
NEAL ASCHERSON
Übersetzung: Niels Kadritzke