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Archiv-Artikel

„So ein Wagen ist viel zu groß“

HEIMAT ODER FERNE Die Hamburger Autorin Bruni Prasske, die regelmäßig über Extremschicksale auf allen Kontinenten schreibt, wohnt während des Sommerhalbjahres auf einem Campingplatz an der Elbe. Und auch das ist ihr noch zu komfortabel

Bruni Prasske

■ 51, hat interkulturelle Pädagogik studiert und später als Sozialarbeiterin mit Flüchtlingen in Hamburg gearbeitet. Seit Langem ist sie zudem in der Asylrechtsbewegung engagiert.

■ Seit 2002 veröffentlicht sie regelmäßig Bücher über Extremschicksale in aller Welt.

■ Das letzte: „Mein Wohnwagen und ich. Vom großartigen Leben im kleinformatigen Heim“.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Frau Prasske, Sie haben mal vom „Genuss der eigenen Fremdheit“ gesprochen. Was meinen Sie damit?

Bruni Prasske: Gespürt habe ich das zum ersten Mal bei meiner ersten Iran-Reise. Das war 1992, und damals fuhren kaum westliche Touristen dorthin, weswegen ich ungeheuer auffiel. Ich hatte vorher Farsi gelernt und konnte mich ganz gut zurechtfinden. Trotzdem wurde ich als extrem fremd wahrgenommen – und extrem freundlich aufgenommen. Trotzdem gab es Situationen, in denen ich wusste: Ich bin jetzt ganz auf mich gestellt.

Ein Beispiel?

Der Bus hielt ganz woanders, als ich dachte. Es war niemand da, der mich abholte. Und es war spät und dunkel. Was mach’ ich jetzt? Da hab’ ich gemerkt: Im Grund hab’ ich immer die richtige Entscheidung getroffen – aus meinem Gefühl heraus. Da war so gut wie nichts Bekanntes, auf das ich mich verlassen konnte. Außer dem Mitmenschlichen.

Und das hat funktioniert. Weil Sie fremd waren.

Ja. Ich habe schnell gemerkt, dass es Teil der Kultur ist, Fremde willkommen zu heißen. Das ist natürlich auch stark auf den Islam gegründet, damit sammelt man Punkte, sozusagen. Deshalb konnte ich mich da ganz hineinfallen lassen und sagen: „Ich verlass mich auf mich – und auf die anderen in meiner Umgebung. Es wird schon alles gut gehen“.

Haben Sie dort auch gespürt, wie deutsch Sie sind?

Sagen wir eher: Ich habe durch die vielen Reisen und durch die Beschäftigung mit „exotischen Lebensgeschichten“ vieles schätzen gelernt, was für uns selbstverständlich ist. Zum Beispiel das, was gemeinhin mit Deutschsein verbunden wird: Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Das kann verdammt große Vorteile haben. Denn genau daran sind die Menschen, die ich porträtiert habe, oft gescheitert: an der Zuverlässigkeit.

Inwiefern?

Ihr Leben wäre leichter verlaufen, wenn sie sich auf ihre Mitmenschen hätten verlassen können. Auf Gesellschaftsstrukturen, die gefestigt und auf Sicherheit ausgerichtet sind. Stattdessen werden die Menschen in vielen Ländern dominiert von Ideologie, Religion, Aberglauben. Das hat bei etlichen zu Ausgrenzung ausgeführt.

Zum Beispiel?

In der Geschichte des Vietnamesen Dien spielt der sogenannte Volksglaube eine wichtige Rolle. Dien, den ich 2007 in Saigon traf und über den ich geschrieben habe, ist querschnittsgelähmt, und das lastet man ihm und seinen Ahnen an – nach dem Motto: selber schuld.

Er war nicht integriert?

Überhaupt nicht. Er ist weggesperrt worden – wie viele andere in diesem Land. Ein Jahr später habe ich für ein Buchprojekt die 23-jährige Südafrikanerin Zanele getroffen, die als Neunjährige von ihrem Pflegebruder vergewaltigt und mit AIDS infiziert wurde. Bei einer solchen Geschichte nützt es nichts, den mitmenschlichen Umgang in einer Gesellschaft schönzureden.

Wie tief dringen Sie mit Ihren Fragen in die Menschen ein?

Eine Biographie aufzuschreiben, bedeutet, in das Leben des anderen sehr tief einzutauchen. Oft wesentlich tiefer, als man es in einer Freundschaft tut. Denn als Rechercheur hört man nicht auf zu fragen, wenn man den anderen verletzt. Man bohrt immer weiter.

Warum?

Bei Sueli Menezes, die im brasilianischen Urwald aufwuchs und schwer misshandelt wurde, habe ich nachgebohrt, weil mir auffiel, dass irgendwas nicht stimmen kann an der Geschichte. Deshalb habe ich sie immer wieder gefragt: Wie hast du erfahren, dass dein Pflegevater, der dich sitzen ließ, tot ist. Versuch dich zu erinnern: Wer hat dir die Nachricht gebracht? Wurde dir gesagt, wo er beerdigt ist? Und wie sich herausstellte, lebte der Mann noch – jemand, den sie 28 Jahre lang für tot hielt. Und sie hat ihn wiedergefunden. Ich insistiere also nicht einfach so, sondern ich überprüfe Erinnerungen, die möglicherweise falsch abgespeichert sind.

In welcher Atmosphäre verlaufen diese Gespräche?

Meistens wird sehr, sehr viel geweint.

Wie halten Sie das aus?

Ich habe früher als Sozialarbeiterin auf den Wohnschiffen im Hamburger Hafen mit Flüchtlingen gearbeitet und kenne das. Mit den bosnischen Frauen war es damals ja nicht anders. Die saßen an meinem Schreibtisch und haben geweint und geweint. Und manche Dolmetscherinnen haben mitgeweint.

Sie nicht?

Selten.

Auch nicht bei Ihren Recherchen als Autorin?

Ich habe immer versucht, das starke Mitgefühl, das ich angesichts solcher Geschichten empfinde, in den Text einzuarbeiten. Und bisher hab’ ich immer die Rückmeldung bekommen, dass ich es richtig verstanden habe. Das ist mein Weg. Ein anderer fühlt vielleicht mit über gemeinsame Tränen.

Und warum haben Sie nach all diesen Extrem-Geschichten dieses harmlose Buch über Ihren Wohnwagen geschrieben?

Weil ich irgendwann dachte: Langsam reicht es mit den Leidensgeschichten. Warum schreibe ich nicht mal über das Nette, was hier mit mir passiert? Es ist ja auch ein Heimatbuch geworden – ohne jede Exotik. Denn durch mein Wohnwagen-Dasein hab ich gemerkt: Mein Gott, wie schön ist es vor den Toren der Stadt! Und die Bäume sind hier genauso toll wie am Amazonas! Der Vollmond ist so schön wie am Äquator! Es hat mir die Augen nochmal anders geöffnet. Für die Heimat.

Welch ein tümelndes Wort!

Vor 20 Jahren hätte ich mich auch nicht getraut, Sätze zu schreiben wie: „Ich blicke grad auf die schöne Welt der Heimat“.

Warum trauen Sie sich das jetzt?

Unter anderem, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen geändert haben.

Inwiefern?

Mein Thema war ja immer Fremdheit. Ich habe mit Flüchtlingen gearbeitet, wo es ja genug Situationen gibt, die zeigen, wie ablehnend unsere Gesellschaft mit Fremden umgeht. Gleichzeitig hat sich vieles gewandelt: Diejenigen, die hier bleiben konnten und mit denen ich noch Kontakt habe, fühlen sich im Großen und Ganzen wohl. Sie sagen, ihre Kinder haben hier eine Zukunft. Sie werden die schwere Zeit des Anfangs nicht vergessen, aber zurück wollen sie auch nicht. Das hat mein Deutschland-Bild schon positiv beeinflusst.

Und seit wann haben Sie den Wohnwagen?

Ich gehe jetzt in die fünfte Saison.

Wie kamen Sie darauf, den Sommer über an der Elbe zu campen?

Dieser Campingplatz am Falkensteiner Ufer war schon immer meine Lieblingsecke. Ich wollte gern dableiben, wenn die anderen nach Hause müssen und habe mich auf eine Warteliste setzen lassen. Dann habe ich es ein, zwei Jahre lang fast vergessen. Irgendwann hab ich – eher zufällig – nochmal mit Nachdruck nachgehakt, und da ging es. Da habe ich mir eben einen gebrauchten Wohnwagen besorgt.

Und ihn allein entrümpelt und umgebaut.

Ja, und das hat mir gutgetan. Denn ich hatte damals gerade derben Liebeskummer und hab’ mich total ausgepowert.

Aber ist Campen nicht etwas sehr Kleinbürgerliches?

Dieser Platz hier ist überhaupt nicht konventionell. Gleich nebenan wohnen Leute aus St. Pauli und Altona, die auch in ihrem normalen Stadtleben nicht angepasst leben. Dieser Platz ist schon sehr speziell. Und auf einem konventionellen, parzellierten Platz würde ich nicht leben wollen.

Was hat das Wohnwagen-Leben mit Ihnen gemacht?

Meine Ansprüche werden immer geringer. Fließend Wasser gibt’s nicht – brauch’ ich nicht. Strom gibt’s nicht – brauch’ ich nicht. Und manchmal denk’ ich, wozu brauch’ ich eigentlich so einen großen Wagen. Ich schlaf’ super im Mini-Zelt, wie ich vorigen Sommer gemerkt habe. Das ist noch reduzierter. Noch näher an der Natur. Und in meiner Wohnung, die ich im Winter mit einer Mitbewohnerin teile, denke ich oft: Mein Gott, was haben wir viel Platz.

Und Sie haben ein Buch über Entrümpler geschrieben. Was machen diese Leute?

Ich habe über zwei Haushaltsauflöser geschrieben, die sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Mit dem, was am Ende des Lebens übrig bleibt. An Geschichten. An Briefen, an Erinnerungen. Die Entrümpler lesen in den Haushalten, die sie auflösen. Ich habe sie über mehrere Monate begleitet und auch Menschen getroffen, mit denen sie zusammenarbeiten, einen Historiker und eine Porzellan-Kennerin. Denn die Frage ist ja: Was passiert mit den Gegenständen und Geschichten? Wo landen die? Was machen die anderen daraus?

Sind Sie auch eine Sammlerin?

Nein, überhaupt nicht. Allerdings finde ich, ich habe immer noch zu viel. Andererseits ist es erstaunlich zu erleben, wie Leute ab einem bestimmten Alter anfangen, selbst schon zu entrümpeln, damit sie die Angehörigen nicht damit belasten müssen. Oder um Geheimnisse zu vertuschen.