: „Das Schiff droht zu sinken“
LAIEN Christian Weisner von der katholischen Initiative „Wir sind Kirche“ sieht dringenden Reformbedarf – und die Gefahr von Rückschlägen
■ Der 59-Jährige ist einer der drei Initiatoren der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“. Er ist Mitglied im Bundesteam der Kirchenvolksbewegung und deren Sprecher. Seit 2005 lebt er in Dachau. Foto: Wir sind Kirche
INTERVIEW: FELIX LEE
taz: Herr Weisner, ist es Zeit für ein neues Konzil?
Christian Weisner: Nein, denn zunächst einmal müsste es darum gehen, die Beschlüsse des letzten Konzils konsequent umzusetzen. Denn nach dem Reformkonzil hat es leider viele Rückschläge gegeben. Zudem gibt es die berechtigte Befürchtung, dass es mit den derzeitigen Bischöfen und Kardinälen eine sehr viel konservativere Ausrichtung geben könnte. Ein neues Konzil würde einen noch größeren Rückschlag bedeuten.
Das heißt: Sie trauen der Spitze der römisch-katholischen Kirche derzeit keine Reformbereitschaft zu?
Nur wenn beim nächsten Konzil auch Laien, vor allem auch Frauen, also das gesamte Kirchenvolk, beteiligt sind, könnte es in der katholischen Kirche zu den Veränderungen kommen, die notwendig sind. Doch dafür kann ich momentan keine Bereitschaft erkennen.
Nach den jüngsten Missbrauchsskandalen steht der Vatikan unter Druck. Wird das nicht dazu führen, dass die Kirchenspitze zumindest beim Thema Sexualmoral umdenken wird?
Es wäre schön, wenn ich diese Hoffnung hätte. Doch die Realität ist eine andere. Als wir vor 15 Jahren das Kirchenvolksbegehren initiierten und eine Erneuerung der römisch-katholischen Kirche forderten, war der Auslöser ebenfalls der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs. Damals ging es um den Wiener Kardinal Hermann Groër. Seit acht Jahren haben wir die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz vorliegen. Trotzdem werden immer wieder Fälle bekannt, in denen die Kirchenspitze zu vertuschen versuchte.
Wie erklären Sie sich das?
Ich sehe darin ganz klar ein strukturelles Problem der römisch-katholischen Kirche, das sie aber nicht erkennen mag. Wenn ein Priester der Täter ist, ist das schlimm genug. Wenn dahinter aber eine Institution steckt, die die Täter – bewusst oder unbewusst – schützt, dann ist das ein Skandal. Der Kirchenspitze muss klar werden: Sexueller Missbrauch ist kein Kavaliersdelikt. Und es handelt sich auch in der katholischen Kirche nicht um Einzelfälle.
Immerhin gab es nun bei der Deutschen Bischofskonferenz Worte des Bedauerns.
Die abgelesene Entschuldigung von Erzbischof Robert Zollitsch wird den Opfern wohl nicht ausreichen. Besser wäre es gewesen, wenn er um Vergebung gebeten und deutlich gemacht hätte, was an Umkehr vonseiten der Kirche auch tatsächlich getan wird. Ich befürchte, dass manche Bischöfe die Dramatik der ganzen Angelegenheit noch nicht ausreichend erfasst haben. Und sie erkennen auch nicht, was für ein Vertrauensschaden entstanden ist.
Was befürchten Sie?
Der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, Jesuitenpater Klaus Mertes, sagt, dass wir erst die Spitze des Eisbergs sehen. Ich fürchte, er hat recht, und kann nur hoffen, um im Bild zu bleiben, dass nicht das ganze Kirchenschiff sinkt. In den USA sind ganze Diözesen und jetzt auch Jesuitenprovinzen pleitegegangen aufgrund der Entschädigungsforderungen. In Irland ist die Kirche aufgrund der jahrelangen Missbrauchsfälle völlig am Boden. Ähnliches befürchte ich auch für Deutschland, wenn nicht die tieferen Ursachen angegangen werden.
Was konkret müsste von der Kirche kommen?
Das Erste ist: den Opfern zuhören, ihnen Glauben schenken und sie um Vergebung bitten. Dann ist natürlich therapeutische Hilfe notwendig, sowohl für die Opfer als auch für die Täter. Wenn Opfer auch eine finanzielle Entschädigung erwarten, dann sollte auch das geklärt werden. Im Fall der missbrauchten Heimkinder hat es einen runden Tisch gegeben, an dem Lösungen gefunden wurden. Ein solcher runder Tisch wäre auch hier ein guter Weg. Auch die Prävention bei Priestern wie bei potenziellen Opfern muss intensiviert werden. Letztlich muss unsere Kirche aber auch eine neue Einstellung zur Sexualität gewinnen.
Was kann die Kirchenbasis beitragen?
Sehr viel. Und viele tun das ja bereits. Die Kirchenvolksbewegung betreibt seit 2002 ein Nottelefon, wo sich seitdem um die 300 Opfer gemeldet haben. Dann gibt es viele gute Priester und ReligionslehrerInnen, die die Botschaft Jesu ernst nehmen und den römischen Katechismus nicht als allein selig machende Botschaft verkünden, sondern sich den wirklichen Fragen der Menschen zuwenden und auch Tabus ansprechen.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel Homosexualität. Der Katechismus verbietet es, homosexuell zu leben. Doch wir wissen, dass viele katholische Priester schwul sind. In den USA sollen es 30 bis 50 Prozent sein. Für Seelsorger ist es aber keine gute Voraussetzung, wenn sie ihre eigene Persönlichkeit verstecken müssen. Die Kirchenleitung wäre gut beraten, mehr auf die Humanwissenschaften zu hören. Die Basis ist da sehr viel weiter.
Wie ist denn momentan die Stimmung an der Basis?
Viele sind enttäuscht, dass der Vorsitzende der Bischofskonferenz fast vier Wochen lang geschwiegen hat. Seine Entschuldigung kam zu spät und war blass.
Treten mehr Menschen aus?
Wie bei der evangelischen Kirche gibt es auch bei den Katholiken seit vielen Jahren einen permanenten Aderlass. Und das hat gar nicht nur mit den aktuellen Dingen zu tun. Es ist die Entfremdung der Kirchenspitze vom Kirchenvolk insgesamt, weswegen viele einen Austritt erwägen.