: Laufen im deutschen Fernsehen zu viele Krimis?Ja
INFLATION Nächste Woche wird der Deutsche Fernsehkrimipreis verliehen. Das Genre boomt seit Jahren. Jede Woche kann man bis zu fünfzig Krimis sehen. Täglich läuft wenigstens ein „Tatort“. Und die Privaten importieren fleißig Krimi-Massenware aus den USA
Gunther Witte, 74, ist der Erfinder des „Tatorts“ und war über 30 Jahre lang WDR-Fernsehspielchef
Die deutschen Fernsehsender zeigen zu viele Krimis. Vom „Tatort“-Erfinder mag das überraschend klingen. Deshalb betone ich mit Nachdruck, dass ich auf keinen Sonntags-„Tatort“ verzichten möchte! Dafür spricht die überwiegend hohe Qualität der Filme und ihr Erfolg. Problematisch ist aber die Devise der ARD, möglichst jeden Tag mindestens einen „Tatort“ auf einem ihrer Sender auszustrahlen. Das ist inflationär und kann auf Dauer kontraproduktiv sein. Die Krimis okkupieren einen viel zu großen Teil der Sendeplätze und finanziellen Ressourcen des Fernsehfilms. Die Sender verzichten damit auf die Chance, Vielfalt und Formenreichtum auszuschöpfen. Gerade das aber hat ganz wesentlich Erfolg und Ansehen des Fernsehspiels in seiner Glanzzeit ausgemacht. Das Übergewicht des Krimis ist kein Zufall. Es geht um Quotensicherheit und Risiko-Minimierung. Dabei geht vielen Krimis die Originalität aus. Viel zu oft wiederholen sich Themen und Storys. Die künstlerische Qualität bleibt im Mittelmaß hängen.
Ingo Naujoks, 47, spielte acht Jahre den Mitbewohner von Kommissarin Lindholm im Niedersachsen-„Tatort“
Es gibt schon eine gewisse Art von X-Beliebigkeit, die mich dazu drängt zu sagen: Ja, es gibt zu viele (überflüssige) Krimis im deutschen Fernsehen. Mich persönlich faszinieren Krimis schon immer. Bei mir gibt die Erzählweise den Ausschlag: Je origineller, überraschender und individueller diese ist, desto unentbehrlicher finde ich den Krimi. Das Genre soll immer „alles“ sein, es ist die „reine Wahrheit“ und zugleich ein „gnadenloser Vorgang“, das „größte zu wahrende Geheimnis“. Durch das Zeigen anderer erzählt der Krimi dir, wie hinterhältig du sein kannst, wie verschlagen du sein könntest. Dabei muss er aber wirklich gut sein, um genau das zu erfüllen. Leider laufen zu viele Krimis im TV, die genau das nicht tun.
Orkun Ertener, 43, „Tatort“-Autor, hat die Krimiserie „KDD – Kriminaldauerdienst“ geschrieben
Zähneknirschend: Ja, es laufen zu viele Krimis im deutschen Fernsehen. Sagt einer, der selbst viele Krimis schrieb, ihre erzählerischen Möglichkeiten schätzt und sie auch als Zuschauer liebt. Warum? Weil es zu viele gleichförmige, austauschbare Formate gibt. Vor allem: Weil zu wenig andere Genres, zumal seriell, den Weg auf den Bildschirm finden. Ich warte noch auf die deutsche Drama-, Arzt- oder Familienserie, die mich ernst nimmt und die ich ernst nehmen kann. Jede Entscheidung für ein Format ist immer auch die Entscheidung gegen viele andere Formate, die das Senderbudget nicht aufnehmen kann. Ohne Vielfalt und Probierräume findet Entwicklung in der Fiction aber kaum statt. Was maßvoll genossen, reizvoll und spannend ist, dem Immergleichen ein unerwartet Neues abzutrotzen, ist in hoher Frequenz schlicht ermüdend.
Knut Hickethier, 64, ist Professor für Medienwissenschaften an der Universität Hamburg
Es gibt zu viele Verbrechensdarstellungen im deutschen Fernsehen. Fast täglich läuft ein „Tatort“, ständig werden im TV neue Ermittlerteams auf die Serienspur gesetzt. Sie zeichnen auf drastische Weise ein kriminalisiertes Bild der Gesellschaft. In den 90er-Jahren haben die Privaten mit ihren Rotlichtmilieu-TV-Movies kräftig die mediale Verbrechensunterhaltung angeheizt, sie forcieren mit ihren schrillen Gerichtsshows den Trend weiter. Kaum ein Fernsehfilm kommt heute ohne Krimi-Elemente aus. Wenn die Fernsehfiktion ein Spiegel der Gesellschaft ist, wundert dieses kriminalisierte Bild nicht, denn wir erfahren aus der Wirklichkeit täglich von Finanzbetrug, Kindesmissbrauch, Mord und Totschlag. Aber: Der ständige Fernsehkrimi ermüdet. Von der Gesellschaft lassen sich auch andere Geschichten erfolgreich erzählen.
Nein
Klaudia Wick, 45, ist freie Fernsehkritikerin, Medienjournalistin und Autorin von TV-Sachbüchern
Beileibe nicht alles, was sich der Form halber „Krimi“ nennt, ist auch einer. Die Genrekonvention verlangt eine Leiche und einen Ermittler. Aber sonst? Sind der dramaturgischen Freiheit keine Grenzen gesetzt. Die Liste der „Tatorte“, die aufgrund ihrer Themenwahl gesellschaftspolitische Debatten auslösten, ist zu lang, um sie hier aufzuführen. Das ZDF spielt zur Primetime unter dem Deckmantel des Krimigenres ungeniert mit den Erzählformen. Verlegt den „Shootout“ aus dem Western nach Amrum oder übt sich im vermeintlichen Whodonit „Die Tote vom Spreewald“ aufs Feinste im asynchronen Erzählen. Im US-Fernsehen finden solche ästhetischen oder moralischen Debatten in den fortlaufend erzählten Serien wie „24“ oder „Mad Men“ statt. Bei uns hat sich das Publikum darauf verständigt, dieses Highend-TV in den Krimireihen zu suchen. Und findet es dort auch. Zu viel Krimi? So what!
Rita Thies, 49, Kulturdezernentin in Wiesbaden ist Initiatorin des Deutschen Fernsehkrimipreises
Gerade die abendfüllenden deutschen Krimiproduktionen übernehmen eine wichtige kulturelle Funktion. Kein anderes fiktives Format ist so nah an den gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemen. Viele gute Produktionen greifen soziale Missstände auf, erzählen Geschichten zu Themen wie Kinderarmut oder Einsamkeit im Alter, bei denen die meisten Zuschauer normalerweise wegzappen. Beim FernsehKrimi-Festival finden sich brisante Themen wie der Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder Cybermobbing unter Schülern. Der Krimi kann alle Probleme und Fragen unserer Zeit behandeln. Sein Ausgangspunkt in unserer anscheinend so enttabuisierten Gesellschaft ist der größte und brutalste aller Tabubrüche. Vom Mord ausgehend wird der Moralkodex, die Frage von „richtig“ und „falsch“ verhandelt. Die Ermittler geben uns das gute Gefühl, am Ende doch die aus den Fugen geratene Welt wieder ein Stück zusammengeflickt zu haben. Damit ist der Krimi neben dem intellektuellen Ratevergnügen und spannender Unterhaltung auch ein Stückchen Religionsersatz.
Uwe Steimle, 46, Schauspieler und Kabarettist, 31-mal als Hauptkommissar beim „Polizeiruf“
Zu viele gute Fernsehkrimis: gut erzählte spannende Geschichten, die die soziale Wirklichkeit in diesem Lande anhand guter Drehbücher durch gute Schauspieler in intelligenter Regie widerspiegeln – davon kann es ja wohl zu viel nicht geben! Ich habe mich als Kommissar Hinrichs 15 Jahre im Schweriner „Polizeiruf“ darum bemühen dürfen, bis ich von der Obersten Heeresleitung entsorgt werden musste. Weil ich mich für unsere Zuschauer gegen die merkwürdig versponnenen Drehbücher merkwürdiger Autoren gewehrt habe. Dann war es die Fernsehspielchefin des NDR, die hinter all diesen merkwürdigen Autoren-Persönlichkeiten steckte, die Bücher selber geschrieben hatte und schizophrenerweise doppelt so viel Honorar erhielt, wie ihr zustand. Wer schreibt diesen Krimi namens „Öffentlich-rechtlich – und keiner hat’s gewusst“?!
Heike Popp, 45, Kassiererin aus Verl bei Gütersloh, hat die sonntaz-Frage bei taz.de kommentiert
Die Sender zeigen, was die Zuschauer sehen wollen. Die Quote fabrizieren wir selbst. Je unsicherer die Zeiten, desto mehr verlangen wir nach klaren Strukturen. Früher waren es Hänsel und Gretel, heute sind es Thiel, Borowski oder Kommissar Beck. Es tröstet uns heute, genau wie die Menschen damals, dass das „Gute“ den Sieg davonträgt. Das Strickmuster ist immer gleich. Man nimmt nur andere Wolle. Es wird niemand gezwungen, seinen Abend vor der Glotze zu verbringen. Wir sind wie Tiger in der Manege, die sich aufregen, und uns ist nicht klar, dass wir den Dompteur einfach fressen könnten.