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Archiv-Artikel

Der Wrangelkiez verändert sein Gesicht

KREUZBERG Der Kinderladen „Klein und Stark“ muss wegen der hohen Miete aus der Falckensteinstraße wegziehen – und nicht nur er

Die armen Gestalten werden weniger. Die Gutbürgerlichkeit übernimmt langsam das Ruder im Kiez

VON GESA STEEGER

Erkan Dogruöz sitzt mit verschränkten Armen auf einem kleinen Mauervorsprung und lässt seinen Blick über den schattigen Hof schweifen. Ein paar Kinder spielen leise zu seinen Füßen. „Ich habe die Hoffnung aufgegeben“, sagt der Erzieher und zuckt mit den Achseln, „da ist nichts mehr zu machen.“ Grund für Dogruöz’ Resignation ist das bevorstehende Aus einer kleinen Kreuzberger Institution: Ende Juni, nach 34 Jahren, muss der Kinderladen „Klein und Stark“ seine Räume in der Falckensteinstraße 5 schließen.

Eine Mietsteigerung um 300 Prozent mache den Umzug unumgänglich, sagt Dogruöz. Der Hausbesitzer verweigere sich weiteren Gesprächen. Er habe sie abgewimmelt mit den Worten: „Ich bin nicht das Sozialamt.“ Während er herumliegendes Kinderspielzeug einsammelt und die ersten Kinder verabschiedet, erzählt der junge Deutschtürke von dem Ärger mit dem Vermieter. „Früher haben wir hier zwischen sieben und acht Euro pro Quadratmeter bezahlt“, erinnert er sich. Seit 2009 sei die Miete dann jedes Jahr um einen Euro gestiegen. Die 12 bis 13 Euro pro Quadratmeter, die sie jetzt zahlten, seien ja im Rahmen, sagt Dogruöz.

Doch als alle Beteiligten sich 2011 zu neuen Vertragsverhandlungen trafen, hätte der Vermieter auf einmal 35 Euro pro Quadratmeter gefordert. „Für uns völlig unrealistisch“, sagt der Erzieher und schüttelt verständnislos den Kopf. „Würden wir diese Preise bezahlen, müssten wir auch unseren Elternbeitrag erhöhen. Damit würden wir sozial schwache Familien automatisch ausschließen. Das ist undenkbar für uns“.

Noch 2006 mutmaßte der Spiegel, dass der Polizei der Kreuzberger Wrangelkiez entgleite und man es mit Zuständen wie in den Pariser Banlieues zu tun bekäme. Das Gegenteil ist der Fall: Die Gegend wird heute vor allem bestimmt von schlendernden Touristen, Cafés und Restaurants. Verliebte Pärchen schlecken Eis, Kinder rennen umher, Amerikaner und Spanier knipsen die weißen Gründerzeitfassaden. Von den angrenzenden Restaurants weht Essensgeruch über den kleinen Platz in der Mitte der Falckensteinstraße, der mit seinen Sitzbänken und grünen Bäumen wie ein großes Freilichtwohnzimmer wirkt. Ghetto sieht anders aus.

Sicher, es gibt sie noch, die Obdachlosen, die vor dem Supermarkt an der Ecke schnorren, die Flaschensammlerfamilien und die Dealer aus dem Görlitzer Park. Doch die armen Gestalten werden weniger. Die Gutbürgerlichkeit übernimmt langsam das Ruder. Der Wrangelkiez erlebt einen rasanten Aufstieg – und die Falckensteinstraße ist das Aushängeschild dieser Veränderung.

Der Kinderladen ist längst nicht das einzige Opfer dieser Entwicklung: Als Erstes musste das Bestattungsunternehmen gegenüber seine Räume aufgeben, dann der kleine Blumenladen, dann vor zwei Jahren der Malerladen. Fast-Food-Imbisse und Restaurants übernahmen die begehrten Ladenlokale. „Hier wird es nicht anders sein“, prophezeit Dogruöz beim Rundgang durch die Kita.

Das Gebiet zwischen Görlitzer Park und Spree verzeichnete 2012 einen der stärksten Mietanstiege der Stadt: Um knapp 26 Prozent stiegen die Mieten gegenüber dem Jahr 2011. Wer hierher zieht, muss gut verdienen: Laut dem GSW-Wohnmarktreport zahlt man bei Neuvermietungen inzwischen im Schnitt 9,50 Euro pro Quadratmeter. Da wundert es nicht, dass parallel zu den Mietpreisen auch das Durchschnittseinkommen der Bewohner steigt: Lag es 2006 noch bei rund 1.180 Euro im Monat, verdiente der Durchschnitt 2011 bereits etwa 1.400 Euro.

Dass sich die Bevölkerungsstruktur im Kiez zusehends verändert, beobachtet das Quartiersmanagement seit Jahren. Die Anzahl der türkischen Anwohner, die früher das Image des Multikulti-Kiezes entscheidend mitprägten, sei deutlich zurückgegangen, so eine Mitarbeiterin. Gleichzeitig habe der Anteil der Ausländer aus den westlichen EU-Staaten zugenommen.

Hermann Solowe sitzt vor seinem Ladenatelier und raucht Selbstgedrehte. Drinnen im Halbdunkel stehen große Skulpturen aus Papier und Ton. Solowes Jeans und T-Shirts sind bunt gesprenkelt. Seit 2003 arbeitet der Künstler in der Falckensteinstraße, seit 1993 lebt er im Wrangelkiez. „Was hier in der Straße gerade abgeht, kann als Ausverkauf bezeichnet werden“, sagt der 49-Jährige ärgerlich. Die Mieten würden steigen, die Geringverdiener verdrängt. „Nicht genug damit, dass die Leute teilweise an den Stadtrand ziehen müssen“, sagt der Künstler. „Durch den Umzug verlieren sie auch noch ihre sozialen Kontakte aus dem Kiez.“

Dass sich die Mieterschaft in der Gegend ändere, merke er in seinen Töpferkursen, die er wöchentlich im Nachbarschaftszentrum um die Ecke anbiete, erzählt Solowe. Früher seien vor allem Türken und Kurden gekommen, Familien mit vielen Kindern, heute töpferten überwiegend die deutschen Gutverdiener mit Kind. Dass sei nicht besser oder schlechter, fährt Solowe fort, aber die Atmosphäre sei jetzt eben eine andere als früher, „weniger gemeinschaftlich“.

Was ihn richtig ärgere, seien die Billigrestaurants, die sich seit ein paar Jahren in der Straße breit machen würden, und der Dreck und der Lärm der Touristen, schimpft der Künstler. Das einzig Positive an den Massen, die sich durch die Falckensteinstraße schlängelten, sei, dass jetzt mehr Besucher in sein Atelier kämen.

„Touristen, Mieten. Ich kann diese Schlagwörter nicht mehr hören!“, sagt Maria Koimtzoglou entnervt und streicht sich ihre dunklen Locken aus dem Gesicht. Seit 2011 betreibt die junge Deutschgriechin ihr Yogacafé in der Falckensteinstraße. Ein großer Tisch dominiert den hellen Raum. Junge Menschen mit Laptops und schrillen Klamotten trinken Kaffee und frische Fruchtsäfte. An die Anfänge ihrer Selbständigkeit erinnert sich die 33-Jährige mit gemischten Gefühlen. „Schon wieder ein Inder oder scheiß Gentrifizierer“, das seien die ersten Kommentare der Nachbarschaft zur Eröffnung des Cafés gewesen, erinnert sich Koimtzoglou. „Natürlich sind wir Gentrifizierer“, sagt die junge Frau, „ich habe aber auch kein Problem damit. Ich finde es wichtig und natürlich, dass eine Stadt wie Berlin sich auch verändert.“ Sicherlich sei es traurig, dass die Kita wegziehen müsse, meint Koimtzoglou, aber jede Veränderung gleich zu verdammen, das sei engstirnig und leider auch typisch Kreuzberg.

Für die 27 Kinder der Kita „Klein und Stark“ heißt es jetzt Abschied nehmen von der Falckensteinstraße. Ein Teil der Gruppe wird in den zweiten Laden der Initiative in die Kreuzberger Adalbertstraße umziehen. Ein anderer Teil wechselt in neue Räume in Friedrichshain. Erkan Dogruöz ist sichtlich traurig über den anstehenden Umzug. „Früher haben wir hier als Kinder auf der Straße Fußball gespielt“, erinnert er sich, „dass es mal so kommen würde, konnte sich damals niemand vorstellen.“