: Noch mehr Reformversprechen
BRASILIEN Präsidentin Dilma Rousseff verspricht in Reaktion auf die Protestwelle Reformen des politischen Systems. Derweil legen die Demonstranten eine Verschnaufpause ein
AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat die politische Initiative zurückgewonnen – vorläufig. Sie lud die Gouverneure aller 27 Bundesstaaten und die Bürgermeister der 26 größten Städte ein, um am Montag ein großes Reformpaket zu verkünden. Das politische System soll reformiert, die Korruption härter bestraft und mehr Geld für öffentliche Dienstleistungen ausgegeben werden. Die rechte Opposition bezeichnete die Politikreform als „unrealistisch“ und als „Ablenkungsmanöver“.
Zuvor traf Rousseff Vertreter der „Bewegung für Nulltarif“ (MPL), deren Ruf nach Rücknahme der Buspreiserhöhungen vor drei Wochen die Protestwelle ausgelöst hatte, die allein letzten Donnerstag über 1,5 Millionen Menschen mobilisierte. Rousseff will zeigen, dass sie die Demonstranten ernst nimmt. „Die Präsidentin war komplett unvorbereitet“, sagte MPL-Sprecherin Mayara Vivian nach dem Treffen. „Keine Informationen, kein konkreter Vorschlag.“
Die Demonstranten legen zur Zeit eine Verschnaufpause ein. Zwar gehen jeden Tag noch Tausende in allen Landesteilen auf die Straße, doch ist es seit dem Wochenende ruhiger. „Ich muss mich doch auch mal wieder um den Alltag kümmern“, sagt Vitor abends in einer der Szenekneipen im Zentrum von Rio de Janeiro. Für Donnerstag sei in Rio der nächste Protestmarsch angekündigt. Am Sonntag ist das Endspiel des Confederations-Cup im Maracanã-Stadion. „Es ist der Aktionstag gegen Häuserräumungen wegen der WM, wir befürchten, dass vor dem Stadion auch das Militär eingreifen wird“, so Vitor. Rousseffs Reformvorstoß war ein geschickter Schachzug. Per Referendum soll eine Verfassunggebende Versammlung einberufen werden, die die Reform formulieren soll. Das Ziel sei, die „Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen zu erweitern“.
Seit 15 Jahren ist das Thema auf der Tagesordnung – bisher ergebnislos. Dabei geht es um die Rolle der Parteien, Wahlkampffinanzierung und die herrschende Wahlpflicht. In Brasilien werden meist Politiker persönlich gewählt, nicht ihre Parteien oder politischen Positionen. Oft wechseln Gewählte die Partei und richten ihre Politik nicht nach inhaltlichen Kriterien, sondern daran aus, wie sie sich und ihrem Clan Pfründen sichern können. Wie die unzureichende Parteienfinanzierung gilt das auf Personenwahl ausgerichtete Wahlsystem als Ursache von Korruption und Vetternwirtschaft.
Rousseff will Korruption künftig als schwerwiegendes Verbrechen einstufen und mit höheren Strafen ahnden. Für Bildung, Gesundheit und öffentlichen Nahverkehr kündigte sie Reformen und Investitionen an. Allein für urbane Mobilität sollen umgerechnet 18 Milliarden Euro ausgegeben werden. Die Qualität der Dienstleistungen solle besser kontrolliert und eine Beteiligung der Bürger bei der Planung garantiert werden.
Damit konkretisierte Rousseff die halbherzigen Vorhaben, mit denen sie am Freitag zuerst auf die Proteste reagiert hatte. Sie bezog die regionalen Entscheidungsträger mit ein, um zu zeigen, dass nicht nur die Bundesregierung, sondern auch Gouverneure und Bürgermeister Ziel des Protestes sind. Die Rechte hinterfragt vor allem den komplizierte Weg über Volksabstimmung und Verfassungsänderung, zumal nur der von korrupten Politikern durchsetzte Kongress befugt ist, Referenden einzuleiten. Juristen zweifeln, dass dieser Weg überhaupt gangbar ist. Und immer wieder wird gefragt: „Wer soll das Ganze denn bezahlen?“
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