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Archiv-Artikel

Kein Ort für Memmen

VOM ALTER LERNEN Ohne Furcht zuhören: Die intensive Performance „Dem Weggehen zugewandt“ im Radialsystem

Nicht immer klammern sich die Alten an die Erinnerung, sie werden eher von ihr nicht losgelassen

VON ROBERT MATTHIES

Dass sie die Grenze zu einer noch unbekannten und sehr eigenwilligen Welt überschritten hat, nimmt sie ganz plötzlich wahr. „Mit einem Schlag bin ich sehr alt geworden“, beginnt die fast 90-jährige österreichische Schriftstellerin Ilse Helbich ihre im letzten Jahr erschienenen „Erkundungen“ im „Grenzland Zwischenland“.

In konzentrierten Sätzen protokolliert sie darin ebenso plastisch wie lakonisch gelassen die körperlichen Einschränkungen, die „zu aller Auflösung drängenden Kräfte“: das voranschreitende Versagen der Sinnesorgane, die Mühe, die das Gehen plötzlich bereitet, wie sich zur Vergesslichkeit allmählich die Verwirrung gesellt. „Das Alter“, zitiert Helbich Schauspieldiva Bette Davis, „ist kein Ort für Memmen.“

Vor allem aber geht es um die Faszination, die von jenem Neuen ausgeht, „das da hereingebrochen ist. Unabweisbar.“ Darum, wie spannend es sein kann, sich selbst zum Rätsel zu werden, dass sich das Leben im immer kleiner werdenden „Zwischenland“ ganz neu entdecken lässt. Und wie erstaunlich befreiend es ist, sich dem Weggehen zuzuwenden.

Einige Erzählungen aus diesem unbekannten Land hat Anfang Juni das Projekt „Dem Weggehen zuwandt“ im Rahmen des Themenschwerpunkts „Old School – Von Alten lernen“ im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel auf die Bühne gebracht. Als knapp zweistündiges Musiktheater für einen rund 60-köpfigen „Chor der Alten“, sechs Darsteller und das 13-köpfige Berliner Solistenensemble Kaleidoskop. Ab heute ist das Projekt im Radialsystem zu Gast.

Entwickelt hat „Dem Weggehen zugewandt“ das Hamburger Künstlerkollektiv Union Universal um die Regisseurin Maria Magdalena Ludewig auf der Grundlage von Texten Helbichs und mehr als siebzig Interviews mit alten Menschen. Die Musik dazu stammt von der italienischen Demenzforscherin und Komponistin Manuela Kerer.

Gleich zu Beginn wird klar: Auch hier wird man von Einschränkungen ebenso hören wie von der Faszination des Alters. Noch sieht man nur sechzehn leere Holzbänke in zwei Reihen. Später werden sie immer wieder verschoben und neu angeordnet, mal sitzt der Laienchor im Halbrund, schließlich wie im Flugzeug in Reihen hintereinander. Noch sitzt mit offenem Hemd der Schauspieler Manfred Andrae allein im Halbschatten, wirkt verloren. Immer wieder wird er später inmitten der anderen herumwatscheln, nur zaghaft auf Kontaktversuche reagieren.

Aber der Laienchor, der nun auftritt, trägt kein uniformes Beige, ist auffallend bunt gekleidet und klingt äußerst lebendig, als er, oje!, „Am Brunnen vor dem Tore“ anstimmt. Immer wieder geht es auch um derlei Altersklischees.

Es geht darum, dass sich das Leben im kleiner werdenden „Zwischenland“ ganz neu entdecken lässt

Durch den Abend führt Irm Hermann, Fassbinders mürrische Spießerin, rezitiert ganz und gar nicht mürrisch am Schreibtisch und durch die Menge spazierend aus Helbichs „Erkundungen“. In kleinen Szenen spielen gestandene Kollegen einsame Erinnerungen, unterbrochen von der Choreografie der tanzenden, aneinander vorbeigehenden, raunenden und singenden Alten.

Rührend, wie die über 90-jährige Tänzerin Fe Reichelt mit strahlendem Gesicht alte Schritte vorführt. „Vorn geht’s noch hoch, hinten nicht.“ Umtanzt von drei jungen Streicherinnen mit dem immergleichen Satz: „Großmutter, hüpf!“ Intensiv auch die Szene mit Schauspielerin und Kabarettistin Ursula Staack, die sich in Italien-Campingplatz- und Schlagererinnerungen hineinsteigert und immer wieder brüllt: „Aber wir hatten es doch auch schön!“

Nicht immer aber klammern sich die Alten an die Erinnerung, werden stattdessen von ihr nicht losgelassen. Wenn Carin Abicht da den Horror der Bombennächte noch einmal durchlebt: Das ist dann doch zu viel Klischee. Aber wie Bärbel Bolle den von der Decke heruntergelassenen rauschenden Lautsprecher anbrüllt, die Erinnerung, dass die Tochter die eigene Mutter im Stich gelassen habe, solle doch endlich gehen, damit sich wieder leben lasse: ein starkes Bild für die ganz eigene Vitalität des Alters.

Und man beginnt, zu begreifen, wie wenig es braucht, von den Alten zu lernen. Man muss sie nur zu Wort kommen lassen. Und ohne Furcht zuhören.

■ Am 28., 29., 30. Juni im Radialsystem