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Archiv-Artikel

Sturz zu Silber

Nach der Bruchlandung von Dan Zhang in der Kür des olympischen Paarlauf-Wettbewerbs wird offenbar, wie viel Leid und Tränen hinter dem tapfer vorgeführten schönen Schein verborgen sind

AUS TURIN DORIS HENKEL

Ist es nicht verlockend, sich beim Betrachten dieses Sports Illusionen hinzugeben? Sich vom schönen Schein, von der Eleganz, der Grazie und dem einfühlsamen Miteinander zweier Menschen verführen zu lassen? Ganz leicht war das beim Lauf von Tatjana Totmianina und Maxim Marinin, die Montagabend in Turin überlegen und mit einem Hauch von zeitloser Schönheit die Goldmedaille im Paarlauf gewannen. Aber wie viel Risiko und Gefahr von der Schönheit milde verdeckt wird, das wurde ein paar Minuten später beim fürchterlichen Sturz der Chinesin Dan Zhang deutlich. Von einem Moment auf den anderen ging ein Vorhang hoch, und er enthüllte den Blick auf die schmerzhafte Wirklichkeit. Die da lautet: Nein, das ist kein Sport für Zuckerpuppen und weichgespülte Traumtänzer; Glanz und Pailletten blenden gewaltig.

Dan Zhang und ihr Partner Hao Zhang waren die Letzten in der Konkurrenz, und als erstes Element stand ein atemberaubendes Element auf dem Programm, der vierfache Wurf-Salchow. Die Chinesen, nicht nur diese beiden, sind berühmt für ihre Flugnummern, doch zurzeit sind sie die Einzigen, die diesen Wurf wagen. Dan sagte hinterher, sie habe die Hand ihres Partners beim Abwurf ein wenig zu früh losgelassen; dreimal drehte sie sich in der Luft, zur vierten Drehung reichte es nicht mehr und stattdessen knallte sie mit voller, brutaler Wucht aus mehr als zwei Metern Höhe auf das Eis, zuerst mit dem rechten Fuß, dann mit dem linken Knie und es riss es ihr die Beine auseinander. Allen in der Halle stockte der Atem.

Mit größter Mühe rappelte sie sich auf, sorgenvoll gestützt von Partner Hao, und keiner glaubte in diesen Augenblicken daran, dass die beiden weiterlaufen würden. Im Gegenteil – man hoffte, sie würden es nicht tun. Daran habe sie keinen Moment gedacht, sagte Dan eine Stunde später, als sie mit einem mächtigen Eisverband am sonst so dünnen Knie bei der Pressekonferenz saß. Sie sei zwar verwirrt gewesen, habe aber unbedingt weitermachen wollen.

Nach einer Pause von mehr als zwei Minuten – so viel sieht das Regelwerk in solchen Fällen als Karenzzeit vor, beginnend mit dem Moment, in dem der Schiedsrichter die Uhr stoppt – gaben sie ein Zeichen, die Musik setzte wieder ein, und sie liefen, bis auf einen kleinen Stolperer beim dreifachen Wurf-Rittberger, als sei nichts geschehen. Unglaublich. Das Preisgericht zog hinterher zwar logischerweise Punkte für den Sturz und das verunglückte Element ab, alles in allem reichte es mit ein, zwei Punkten für Tapferkeit dennoch deutlich zum Gewinn der Silbermedaille vor ihren Landsleuten, den ehemaligen Weltmeistern Hongbo Zhao und Xue Shen.

Auch deren Auftritt zeigte, mit welcher Härte die Kunst in diesem Sport erkauft wird: Es war Zhaos erster Wettbewerb nach einem Riss der Achillessehne im August vergangenen Jahres, und wie sich ein derart geschädigter Fuß bei einer Landung nach einem dreifachen Sprung anfühlt, möchte man sich nicht vorstellen. Kaum einer sieht zu, wenn sie im Training Tag für Tag aufs Eis knallen, kaum einer zählt Prellungen und blaue Flecken, und wir haben sicher nicht mehr als eine Ahnung, was es heißt, wenn sie nach der letzten Kür sagen, all die Mühe, die Härte und die Ausdauer habe sich gelohnt. So wie Tatjana Totmianina und Maxim Marinin, die sich mit der Goldmedaille von der Bühne des Eiskunstlaufs verabschiedeten; bei den Weltmeisterschaften nächsten Monat in Calgary werden sie nicht mehr dabei sein.

Und der deutsche Beitrag zum Abend der Erkenntnisse in der Palavela-Eishalle fügte sich ins Bild. Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy hatten zwar keine körperlichen Schmerzen zu überwinden, aber auch sie zeigten auf eindrucksvolle Art Stärke nach dem Wirbel um die Stasi-Vergangenheit ihres Trainers Ingo Steuer. Platz sechs im olympischen Wettbewerb war unter diesen Umständen aller Ehren wert, und Szolkowy meinte, das mache ihn schon ein bisschen stolz. Nun wünschen sie sich sehnlich ein wenig Ruhe, auch im Hinblick auf den Start in Calgary, aber ob daraus was werden wird, ist fraglich. Es steht zumindest ein weiterer Gerichtstermin zum Thema Steuer an, und im Moment wagt niemand eine Prognose, wie es mit dem Trainer und seinen Läufern weitergehen wird. Dass die beiden im Kreise der russischen Gleiter und chinesischen Akrobaten eine große Rolle spielen können, zumal nach dem Rücktritt der Sieger von Turin, ist dagegen keine gewagte Behauptung.

Eva-Maria Fitze und Rico Rex werden es mit Interesse aus sicherer Entfernung verfolgen. Bei der letzten Kür ihrer Karriere lief manches schief, auch das kein Wunder angesichts der Knochenabsplitterung in der Hand, mit der sich Fitze nach einem Sturz im Training plagte. Als alles vorbei war, meinte sie erleichtert: „Ich bin vor Freude fast den Tränen nahe, und ich kann sagen, dass ich sehr stolz auf mich bin.“ Zählt man all die Stürze und Abstürze ihres Lebens, ist das ein Wort mit Gewicht.