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Archiv-Artikel

Auf Brautschau

Die Stadt Woldegk sucht fusionswillige Gemeinden. Ausgerechnet das kleinste Dorf im Kreis will nicht

Experiment Großkreis

■ Der Landkreis: Wie verändern demografischer Wandel und schmaler werdende Budgets die Kommunalpolitik? Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat 2011 als Lösung die Kreise und die bis dahin kreisfreien Städte neu geordnet. Der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte ist seitdem mit 5.496 Quadratkilometern der größte Landkreis Deutschlands.

■ Die Serie: Die taz hat seit Juli 2012 den Kreis ein Jahr lang begleitet. Heute endet die Reihe. Alle Beiträge finden Sie auch online unter: www.taz.de/!s=Landkreis+XXL/

AUS WOLDEGK UND VOIGTSDORF THOMAS GERLACH

Im Bauch der Museumsmühle riecht es nach Schmierfett und Mehl. Mühlenwart Roland Stapel bittet hinauf in die Kuppel, wo sich die Windrose dreht. Bürgermeister Ernst-Jürgen Lode winkt ab und geht hinaus in die Hitze. Von hoch oben überragen vier weitere Mühlen, ein Kirchturm und ein Baukran die 3.700-Einwohner-Stadt. Die Mühle ist Mühlen- und Stadtmuseum in einem. Nur Getreide mahlt sie nicht mehr. Ein Schild weist am Eingang zudem darauf hin, dass hier Trauungen stattfinden. Deswegen ist Lode jedoch nicht gekommen, heute geht es um politische Ehen, wieder einmal.

Die Kreisgebietsreform, die vor fast zwei Jahren in Kraft getreten ist, gleicht einer Zwangsjacke, in die drei Kreise und die Stadt Neubrandenburg auf Geheiß der Landesregierung gepresst wurden. Die Gemeindegebietsreform, bei der sich die Gemeinden zusammenschließen sollen, ist ein freiwilliger Bund, jedenfalls vorläufig. Und Sozialdemokrat Ernst-Jürgen Lode, der jetzt unten an seinem 22 Jahre alten Allrad-Golf steht und an der Mühle hinaufschaut, scheint beständig auf Brautschau.

Bekannte Argumente

Warum eine Gemeindefusion, wo die Kreisgebietsreform noch längst nicht abgeschlossen ist? Das Amt Woldegk, das in seiner jetzigen Größe seit 2004 existiert, soll Kräfte bündeln, muss Gelder effizient nutzen, gemeinsam die Zukunft gestalten, und das alles bei zurückgehenden Einwohnerzahlen und geringer ausfallenden Zuweisungen vom Land – kurzum, Stadt und Dörfer müssen sich zusammentun, um nicht einzeln unterzugehen. So ließe sich die Argumentation beschreiben, mit der die Fürsprecher die Gemeindefusion begründen, und sie klingt wie eine Wiederholung der Kreisgebietsreform.

Ernst-Jürgen Lode wirbt für die Gemeindefusion. Im Amt gruppieren sich 9 Gemeinden um die Stadt, insgesamt sind es 41 Dörfer und Vorwerke, die das Zentralgestirn Woldegk wie Trabanten umgeben. Was liegt näher, als die Kleinstaaterei zu beenden? Zumal das Land Mecklenburg-Vorpommern großzügig „Hochzeitsprämien“ für jedes fusionswillige Dorf ausgelobt hatte. Viele haben sich vermählt, der Bräutigam war immer derselbe. Dreizehn Dörfer sind nun mit Woldegk vereint.

Und es sollen noch mehr werden. Am Vormittag hat der Bürgermeister die Stadt gezeigt. Auf leichten Schuhen eilte er über das Pflaster. 72 Jahre ist Lode alt, und doch hat er sich etwas Jugendliches bewahrt, redet mühelos im Gehen. Der Tenor ist immer gleich: „Die Stadt Woldegk hat nur eine Zukunft, wenn es den Status Grundzentrum behält.“ Wenn immer mehr Menschen nach Neubrandenburg abwanderten, nutze das keinem. Eine Stadt müsse daher ein ganzes Paket bieten – Kita, Schule, Wohnungen, Kaufhallen, Banken, Ärzte, Pflege, Friedhof. Lode hat die Baugrube des Gesundheitshauses gezeigt, die größte Investition der Stadt, die sanierte Schule präsentiert, hat die Kindergartenkinder beim Essen überrascht, die restaurierten Häuser gezeigt und ist dann auf seinen Golf umgestiegen, der am Fuße der Mühle wartet.

Auch optisch müsse eine Stadt was hermachen, ist Lode überzeugt. Da ist es eine Gottesgabe, dass Woldegk pittoresk zwischen Hügeln liegt. Und weil beständig Wind weht, schroteten und mahlten hier zehn Windmühlen, fünf sind noch da, drei besitzen Flügel, eine mahlt.

Und als ob Lode nicht nur mit Selbstmarketing vertraut wäre, sondern auch mit den Naturelementen, kommt in der Mittagshitze eine erfrischende Brise auf. Mühlenwart Stapel löst das Bremsband und von seinem Podest schaut er zu, wie sich die Flügel zu drehen beginnen. Man kann das Schauspiel aus allen vier Himmelsrichtungen bewundern, wie sich die Flügel recken, fast stehen bleiben und sich doch immer weiterdrehen.

Romantisches Werben

Ernst-Jürgen Lode, Doktor der Agrarwissenschaften und bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden der Leiter der Woldegker Rinderbesamung, schaut von unten zu. Schöne glatte Straßen haben sich die kleinen Dörfer von der Hochzeitsprämie geleistet, wird er heute noch sagen. Manche Dörfer seien aufgeblüht, Familien haben sich angesiedelt, Berliner kauften Wochenendhäuser. Klatschmohn, Kornblume und Kamille leuchten von den Feldrainen ringsum, das Getreide wogt, blaugrün der Weizen, samten die Gerste. Die Mühle dreht sich unablässig und kaum dass sie ächzt. Doch was Wind und Flügel beständig raunen, klingt wie ein romantisches Lied. Es singt vom Liebreiz, in Woldegk zu sein, von Wäldern und Weihern und Asphaltwegen, sein Refrain scheint zu lauten: Heirate mich!

Egal was die Windmühlen auch verkünden, von Voigtsdorf aus liegen sie unhörbar hinter Hügeln. „Hochzeit? Nur wegen Geld schließen wir uns nicht zusammen“, weist Isolde Deutschmann alle Avancen zurück. Sie sitzt in der Küche, auf dem Tisch wässern Orchideen. Deutschmann, Jahrgang 1959, eine Frau mit kurzen Haaren und kräftigen Oberarmen, ist Lehrerin für Russisch und Deutsch in Neubrandenburg und ehrenamtliche Bürgermeisterin von Voigtsdorf. Auch Voigtsdorf hat ein Alleinstellungsmerkmal, das Dorf ist mit 102 Einwohnern die kleinste Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern. Und Voigtsdorf ist eisern gegen eine Fusion mit Woldegk. Überhaupt wird schnell klar, dass der Ort eine Hornhaut hat gegenüber Offerten von auswärts, kommen sie nun aus Woldegk, Neubrandenburg oder Schwerin. Voigstdorf hat konsequent auf Selbsthilfe umgestellt, spätestens als Ende 2011 die Rücklagen aufgebraucht waren und seit Kredite die Löcher im Haushalt stopfen. Wer sollte das Straßendorf vor seinem Schicksal bewahren? Ernst-Jürgen Lode? Der Landrat? Die Landesregierung? Und was würde besser, wenn sich verschuldete Gemeinden zusammenschließen? Machen zwei lahme Gäule schon ein Rennpferd?

„Es geht darum, dass das Dorf mit den Dingen, die es noch gibt, erhalten wird“, beschreibt Deutschmann ihre Aufgabe. Feuerwehr und Rentner seien die Stützen, die Feuerwehr hat die Technik, die Rentner haben Zeit. Damit lässt sich auskommen. Warum sollte die Gemeindefusion besser ausgehen als der Zusammenschluss der Kreise? Weshalb sollte man den letzten Trumpf, die Selbstbestimmung, aus der Hand geben? „Wie viele Stimmen hätten wir eigentlich in einem gemeinsamen Gemeinderat?“, fragt sie. „Eine?“ Isolde Deutschmann ist vors Haus gegangen, zündet sich eine Zigarette an.

Langsam spaziert sie die einzige Straße hinab. Seit 1982 lebt Isolde Deutschmann in Voigtsdorf. Sie erzählt, dass das Dorf damals schon ähnlich abgehängt war wie heute. Kleine Gehöfte ziehen vorbei, Siedlungshäuser, die Ortsvorsteherin strahlt einen unverwüstlichen Überlebenswillen aus. Kein Zweifel, wenn höhere Mächte auf die Idee kämen, Wasser- und Stromversorgung zu kappen und den Busverkehr für immer einzustellen, selbst dann wären die Voigtsdorfer nicht aus der Fassung zu bringen. Doch wo sind die 102 Einwohner eigentlich?

„So, und das ist jetzt unser Dorfmittelpunkt.“ Isolde Deutschmann lenkt die Schritte dem Anger zu. Bratwurstduft steigt in die Nase, Thomas Berger, das Gemeindefaktotum, schwitzt und wendet im Takt Würstchen, auf der Bank sitzen die hoch geschätzten Männer der Feuerwehr beim Bier und begrüßen ihre „Isolde“. Hansi, ein Rentner, jung geblieben wie Ernst-Jürgen Lode, steht in der Tür und lächelt. Alles ist bereit. Der Grillnachmittag kann beginnen.

Fröhlicher Rentnergrill

Zuvor weist Deutschmann noch auf den Eingang hin. „Die Pflasterarbeiten, das Vordach – alles Eigenarbeit.“ Das alles habe die Feuerwehr errichtet, ganz ohne Haushaltsmittel und Förderbescheid. Für das Baumaterial sammelten sie Geld, für die Arbeit fanden sich Männer. Dörfliche Autarkie wie vor 500 Jahren, von den Materialien aus dem Baumarkt mal abgesehen. Der Flachbau war früher der Kindergarten, erzählt Deutschmann, heute beherbergt es Feuerwehr und Gemeindetreff. Bald bringt Hansi die Würste. Gut und gern sind jetzt ein Drittel der Einwohner hier beisammen, drinnen am langen Tisch die Rentner, draußen die Feuerwehr. Was die Veränderungen betrifft, halten die Rentner nicht hinterm Berg.

„Wozu brauchen wir eine große Gemeinde?“, fragt Helga, eine ehemalige Lehrerin. „Das schöne Feuerwehrauto kommt dann weg, und es gibt keinen, der unsere Grünanlagen pflegt“, glaubt sie. „Wir können mit den Nachbargemeinden was gemeinsam machen, aber dazu braucht man uns nicht zu vereinen.“ – „Wir sind nicht glücklich darüber, aber wir können es nicht ändern“, beklagt ein Herr am Tischende die Kreisgebietsreform. „Isolde, was haben wir jetzt für einen Altersdurchschnitt?“, ruft eine Rentnerin spitz dazwischen. „Das ändert sich von Monat zu Monat“, gibt Deutschmann trocken zurück. Die Feuerwehrmänner wirken sehr ausgelassen, und das liegt nicht nur an Wurst und Bier. Zum einen thront zwischen den Kerlen Ben Drechsler auf dem Schoß seiner Mutter. Ben ist mit zwölf Wochen der jüngste und hoffnungsvollste Einwohner von Voigtsdorf.

Außerdem haben die Voigtsdorfer Männer im Mai völlig überraschend den Feuerwehrausscheid im Amt gewonnen. Und das bei einem Altersdurchschnitt von 42 Jahren, wie der Woldegker Landbote betont. Doch Erfahrung und Teamgeist haben diesen Nachteil mehr als wettgemacht, fährt das Amtsblatt anerkennend fort.

In Woldegk hingegen hat sich kurz nach diesem heißen Tag ein folgenschwerer Unfall ereignet. Am Sonntag ist eine Böe in die Museumsmühle gefahren und hat einen Flügel abgeknickt. Der Förderverein bittet um Spenden, alle Flügel müssen erneuert werden. Immerhin, die Öffnungszeiten bleiben bestehen, Hochzeiten finden weiterhin statt.