: Wiedersehen, weiche Wonnewelt
Der Vergewaltiger vergewaltigt nur nach Feierabend und ist beruflich Filmkritiker? Vorstellungen haben die Leute …
„Das ist kein schöner Winter“, jammern sie in diesem Jahr, „buh, buh! Ständig ist es kalt und schneit, und dann ist es wieder kalt. Das ist ja abartig. Wie kann man es bloß wagen, uns so einen Winter vorzusetzen. Warum bekommen wir keinen vernünftigen Winter, mit Ananaseis auf der Hollywoodschaukel, mit Blumen und mit Sonnenschein?“
„Das ist keine nette Regierung“, heulen sie seit dem Herbst, „buh, buh! Die bauen ja immer mehr Sozialleistungen ab. Wer konnte denn bei der Wahl so etwas ahnen? Die CDU sollte doch für die massive Verstaatlichung und die Einführung einer Leibrente von tausend Euro für alle stehen! Dazu Abtreibungen auf Krankenschein und Drogen in der Apotheke – oder waren es Drogen auf Krankenschein und Abtreibungen in der Apotheke? Na egal, auf jeden Fall: buh, buh …!“
Alles ist irgendwie komisch geworden. Auf einmal sind die Armen arm und die Reichen reich. Viele Menschen werden krank vom Rauchen und vom Saufen. Das war noch nie da – dessen sind sie sich sicher. Aus den Hunden kommt jetzt unten immer so braunes Zeug raus, von dem die Straßen ganz dreckig werden. Sobald man den Fernseher einschaltet, plärrt aus über vierzig Kanälen breitgetretener Müll, auch das Radio scheint sich angesteckt zu haben. Der Kommerz beherrscht den Fußball, und der Fußball den Kommerz – das ist ja ein Ding!
Plötzlich ist die Sonne zu faul geworden, rund um die Uhr zu scheinen – statt dessen hat sie nachts so eine traurige Ersatzfunzel hingehängt, die dazu noch die meiste Zeit auf Sparflamme brennt. Im Ananaskompott ist Gift; die Kleidung wird im Akkord von halb verhungerten Kindern genäht; man munkelt gar, der Strom käme aus Atomkraftwerken. Es ist echt verrückt geworden: Die Realität hat mit einem Mal viel schärfere Konturen gewonnen. Irgendein Arsch muss das Leben quasi über Nacht mit Ecken und Kanten versehen haben, an denen man sich stößt und schneidet. Das ist nicht mehr die weiche Wonnewelt, wie wir sie lieb haben, das ist nicht mehr unser Land – mit so einem Mist kann sich keiner mehr identifizieren, alles, was recht ist, tut uns Leid!
„Das ist keine schöne Vergewaltigung“, toben die Leute ob der gnadenlosen Sequenz in dem Film „Der freie Wille“ mit Jürgen Vogel, „buh, buh! Das ist ja vielleicht eine rohe Schweinerei! Wir wollen eine schöne Vergewaltigung sehen, und auch nicht mit so einem fiesen und brutalen Vergewaltiger, sondern mit einem charmanten, romantischen, der am Abend mit einem Strauß Rosen an der Tür klingelt – er vergewaltigt nur nach Feierabend, im Hauptberuf ist er Filmkritiker. Lächelnd putzt er sich am Fußabtreter die italienischen Slipper ab, lächelnd serviert sie ihm Ananassaft. Lange Blicke, die vieles sagen und noch mehr verbergen. Sie wollen es doch eigentlich beide. Ein bisschen streicheln, aua, ausblenden.
Eine Träne quillt. Beim Vergewaltiger. Er wollte das nicht, die Situation ist ihm halt irgendwie entglitten – wer hätte dafür kein Verständnis? Er zeigt sich selbst an, wie dieses kleine, süße, supernette Megaschwein in dem unsäglichen Film ‚Julietta‘ – dem ultimativen Movie zur Love Parade. Sie findet das auf eine Art dann doch irgendwie ziemlich gut. Das beweist schließlich auch, dass er es ernst meint, außerdem trägt sie sein Kind unter dem Herzen – Tyson soll es heißen. Man muss auch vergessen können: Schwamm drüber; kann doch jedem mal passieren; wo gehobelt wird, da fallen die Späne. So muss eine Vergewaltigung aussehen, dann klappt’s auch mit dem Nachbarn. Heirat und Happy End.“ ULI HANNEMANN