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Archiv-Artikel

„Näher dran hält man nicht aus“

Die Logik der Heiligsprechung geht über Leichen: In „Requiem“ (Wettbewerb) erzählt der Regisseur Hans-Christian Schmid über eine junge Frau, die zum Opfer von Frömmigkeit wurde. Besessenheit ist aber auch oft eine Verführung für das Kino

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Schmid, „Requiem“ bezieht sich auf eine tatsächliche Begebenheit. 1976 verstarb eine junge Studentin an Auszehrung, nachdem an ihr über einige Monate hinweg ein Exorzismus durchgeführt worden war. Wie haben Sie von diesem Fall erfahren, warum hat er Ihr Interesse geweckt?

Hans-Christian Schmid: Im Spiegel stand ein Artikel über diese Geschichte, darüber, dass es inzwischen Wallfahrten zum Grab dieser Anneliese Michel gibt. Das interessierte mich: dass jemand von Pilgern verehrt wird, der einen sehr qualvollen Tod sterben musste. Mich hat das Schicksal dieser Frau sehr berührt, weil sie auf verlorenem Posten stand, weil sie sehr einfach und bescheiden war, aber auch lebensfroh. Sie hat sich gar nicht viel gewünscht für ihr Leben, ein kleines Glück, und das konnte sie offenbar nicht bekommen.

Das ländliche Umfeld der Protagonistin, das Fromme der Familie, die Religiosität der Menschen auf dem Dorf: All dies wird sehr genau geschildert. Ist Ihnen dieses Milieu vertraut, insofern Sie in dem Wallfahrtsort Altötting groß geworden sind? Oder haben Sie sich Ihre Kenntnis über Recherche angeeignet?

Über Recherche, denn aufgewachsen bin ich in einer modernen Familie – so modern, wie man sich das in den 70er-Jahren und in einem Kleinstadtmilieu vorstellen kann. Was mir vertraut ist, das ist die Generation der Großeltern – in „Requiem“ entspricht dies der Elterngeneration. Menschen, die den Krieg erlebt haben und sich schwer damit tun, Gefühle zu zeigen. Dass ein strenges katholisches Milieu bedeutet, vom Leben nicht viel zu wollen, bescheiden zu sein und Demut zu zeigen – das ist mir bekannt.

Wenn man sich dem Sujet Teufelsaustreibung mit Kinobegrifflichkeiten im Kopf nähert, denkt man fast automatisch an Horrorfilme. „Requiem“ ist jedoch das Gegenteil eines Horrorfilms. Welche Überlegungen gab es, um sich vom Horrorgenre abzugrenzen?

Man lotet aus, wo das Hauptinteresse an so einer Geschichte liegt. Denn die bietet ja viele Möglichkeiten, zu erzählen. Und einen Exorzismus im Film zu schildern, das war für mich keine Option. Erstens gibt es die bekannten Vorbilder, und zweitens ist es sehr äußerlich und spekulativ. Der Autor Bernd Lange hat richtig erkannt, welche Phase der Geschichte unsere Aufmerksamkeit verdient: Es fängt an, wenn Michaela versucht sich von ihrem Elternhaus zu lösen, und es reicht bis zu dem Punkt, wenn man das Gefühl hat, jetzt wird von außen keine Hilfe mehr kommen.

Am Ende, wenn der erste Exorzismus beginnt, zieht sich die Kamera in einer sehr diskreten Bewegung zurück. Das ist eine bewusste Setzung, oder?

Man hält es nicht aus, näher dran zu sein. Es war für uns alle ein sehr belastender Drehtag, und der Kameramann muss gespürt haben, dass es richtig war, sich zurückzuziehen. Es gibt Dinge, denen man ein Stück der Bedrohung, des Geheimnisses nimmt, wenn man ganz nah hinsieht. Ich erinnere mich an eine Szene aus einem Cassavetes-Film, ich glaube, es war „Faces“: Die weibliche Hauptfigur hat einen Heulkrampf und dreht sich – ganz unerwartet – einfach weg. Das habe ich so stark nie wieder gesehen.

Intensität entsteht gerade dadurch, dass man etwas nicht zeigt?

Genau.

Intensität scheint mir ein Schlüsselbegriff zu sein, da der Glauben der Protagonistin Michaela bzw. ihre Überzeugung, vom Teufel besessen zu sein, etwas sehr Dringliches haben. Zugleich gibt es den Perspektivwechsel, etwa wenn Michaelas Studienfreundin den Brief des Psychologen findet, der das Leiden in rationale Begriffe übersetzt. Wie stellt sich für Sie dieses Verhältnis dar?

Der Film versucht zunächst, ein sehr positives Bild von einer Figur zu zeichnen, die trotz einer Krankheit, von der wir irgendwie am Rande hören, Energie hat. Eine Figur, die sich auf ihr Studium freut, die aber dann mehr und mehr eingeholt wird von der Krankheit. Zuletzt dringt eigentlich nur noch dieser Pfarrer zu ihr durch, und der bestärkt sie ja eher, der sagt ja: „Wieso soll ich dir das ausreden?“ Ein großer Teil der Tragik ist, dass ihr niemand auf Augenhöhe begegnen, dass niemand etwas gegen diese Wucht setzen kann, die sie entwickelt hat. Mir geht es so, dass ich sie rütteln will: „Mensch, kapier doch, das ist nicht so, wie du denkst!“

Das würde man auch als Zuschauer gerne tun. Doch vielleicht gibt es auch etwas an dieser Unbedingtheit, das verlockend ist. Will man sich dorthin entführen lassen, wo die Ratio nicht weiterkommt?

Ich nicht! Das ist mir zu unheimlich. Ich sehe sie da immer tiefer hineinschlittern, und es tut mir leid, sie dabei zu beobachten.

Nun gibt es ja Filme, die von Religiosität und unbedingtem Glauben handeln und dabei selbst die Grenze überschreiten. Zum Beispiel „Opfer“ von Carl Theodor Dreyer, in dem eine im Wochenbett Verstorbene von ihrem Schwager wieder zum Leben erweckt wird. Wenn sie dann tatsächlich von ihrem Sterbebett aufsteht, ist das eine Form von Wunder, die im Kino absolut glaubwürdig ist. Oder „Sous le soleil de Satan“ von Maurice Pialat. Da hetzt Gérard Dépardieu einen Feldweg entlang, auf eine ähnlich getriebene, bedrängte, zerquälte Weise wie Michaela am Anfang von „Requiem“. Und der Film selbst gibt sich dieser Besessenheit anheim.

Ich dachte manchmal an Lars von Triers „Breaking the Waves“. Der bezieht sich ja auf Dreyer, vielleicht kann man da eine Parallele finden. Ich finde die Figur in „Requiem“ jedoch bei weitem nicht so naiv wie die Figur in „Breaking the Waves“, und ich hätte mir auch am Ende keine optische Lösung vorstellen können, mit Glocken im Himmel oder Ähnlichem – das hätte man doch nicht gewollt. Am Schluss hat Michaela diese Klarheit, insofern sie sich sagt: Ich gehe jetzt diesen Weg. Ich finde es besonders tragisch, dass das System des Glaubens, wie es der Film schildert, das Opfer so vereinnahmt. Es heißt dann: „Na gut, dann finden wir eine neue Deutung, dann bist du jetzt eine Sühneleidende, bist vom lieben Gott auserwählt, und in letzter Konsequenz endet das mit deinem Tod. Und dann werden wir dir eine Kapelle bauen, und du wirst eine Heilige sein, die wir anbeten werden.“ Diese Logik hat mich umgehauen: dass es das geben kann.