zwischen den rillen
: Zwölf Stücke über das Wesentliche

Eine in ihrer ganzen Abgefeimtheit fantastische Platte: Der große Neil Diamond blickt mit „12 Songs“ auf sein Leben zurück

Nein, man möchte sich von dieser Platte nicht über den Tisch ziehen lassen. Schon der Titel lässt einen verzweifelt nach den Resten kritischer Vernunft greifen, um nicht hineingezogen zu werden in den Abgrund dieses abgefeimt perfekten Produkts popkulturellen Zielmarketings: „12 Songs“ heißt das neue Album von Neil Diamond. Und schon die Simplizität dieser Namensgebung signalisiert: Hier geht es ums Wesentliche. Sonst spazierten Neil-Diamond-Alben immer unter Titeln wie „You Don’t Bring Me Flowers“ oder „Hot August Night“ auf den Markt.

Doch Neil Diamond, einer der ganz großen Songwriter der letzten 40 Jahre und gleichzeitig unübertroffener Schmierlappen des Witwentröstergeschäfts, will es nach langen, langen Jahren des bequemen Lebens unterhalb des Coolness-Radars mit „12 Songs“ noch einmal wissen. Dafür hat er sich mit dem Produzenten Rick Rubin zusammengetan, weltbekannt dafür, der Karriere von Johnny Cash jene Wendung gegeben zu haben, die jenen so nachhaltig zur Coolness-Ikone machte, dass sich heute kaum noch jemand vorstellen kann, was für eine Grütze Cash zeit seines Lebens auch veröffentlicht hat.

Das Rezept ist einfach: Man reduziere die musikalischen Mittel auf ein Minimum („Reduced by Rick Rubin“ stand schon auf den Hüllen, als er Mitte der Achtziger für den Rumms auf LL-Cool-J-Platten verantwortlich war) und erzeuge dadurch den Eindruck, hier werde ein Diamant, der lange von süßlichem Dreck zugeschaufelt war, endlich wieder freigelegt. Um nun in seinem eigentlichen Glanz funkeln zu können. Das ist aber noch nicht alles. Das Herunterfahren der musikalischen Mittel auf ein Minimum, das Ausstellen der Songs in ihrer skelettösen Reinform in Kombination mit dem fortgeschrittenen Alter der Interpreten suggeriert auch: Bald könnte es vorbei sein mit dem Spaß! Liebe Leute, kauft euch diese Platte, hier wird ein großer Künstler kurz vor seinem finalen Abtritt errettet vor den Kompromissen, die er bislang immer schließen musste! Ein selbst für die niedrigen moralischen Standards des Musikgeschäfts ausgesprochen zynisches Spiel, und leider Gottes: Es funktioniert.

„12 Songs“ ist genau die wunderbare Platte geworden, die sie gerne sein möchte. Ein würdiger Update für die Talente eines Künstlers, der nicht nur ein großartiger Sänger ist. Zwölf neue Songs von Neil Diamond, der mit „Girl, You’ll Be A Woman Soon“, „I’m A Believer“ oder „Red, Red Wine“ einige der musikalischen Höhepunkte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben hat. Man nehme etwa „Hell Yeah“, den zweiten Song des Albums und das große „Ich stehe vor dem letzten Viertel meines Lebenswegs und sage, wie es ist“-Stück. Zu der Begleitung der Tom-Petty-Band, die auch bei einigen der American Recordings von Cash mitspielten, fasst Diamond zusammen: „He walked the line / he never crawled/ he cried a bit / but not for long/ hell yeah he’s found a life / that he was after / filled it up with love and laughter / finally got it right and made it fit / hell yeah he did!“ Das hört man doch gerne!

Genau wie „Delirious Love“ – nebenbei das beste Argument dafür, sich die amerikanische Version der CD zu kaufen, da ist es noch einmal als Bonustrack mit Gesangsspur von Brian Wilson drauf –, ein wunderbares Loblied auf die Kraft der Liebe. Und selbst „Face Me“, ein ziemlich dramatischer Song über eine gründlich verfahrene Beziehung in ihrer Spätphase, atmet die Weisheit desjenigen, der die Gosse eben vor allem als jenen Ort kennt, durch die man seine Lady trägt, um in die Hotellobby zu gelangen. Perfekte Songs aus einem perfekten Leben. Man muss sich Neil Diamond als einen glücklichen Menschen vorstellen. Wer will da nicht mitmachen? TOBIAS RAPP

Neil Diamond: „12 Songs“ (American Recordings)