Verstörende Schönheit

LYRIK Ernst Herbeck war Schützling des Psychiaters Leo Navratil, der ihn zum Schreiben animierte. Jetzt sind Herbecks erstaunliche, flüchtige Gedichte „Der Hase!!!!“ erschienen

„Der Psychiater ist die Sorge des Patienten. / Der Psychiater dankt und denkt über den Patienten. / Der Psychiater denkt und schützt die Worte des Patienten“

VON JÖRG SUNDERMEIER

Der Dichter Ernst Herbeck ist sehr bekannt und zugleich unbekannt. Mitte der 60er Jahre erschienen seine ersten Texte in dem Buch „Schizophrenie und Sprache“ von Leo Navratil, Herbeck führte damals das Pseudonym Alexander. Und die Texte, die Navratil anführte, beschäftigten viele andere Dichter, etwa Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Heinar Kipphardt oder W. G. Sebald.

Herbeck verstarb 1991 im Alter von 70 Jahren. Dass er 45 Jahre seines Lebens in Nervenheilanstalten zubrachte, war traumatischen Erlebnissen geschuldet. Dass er zum Dichter wurde, ist wiederum dem Nervenarzt Leo Navratil zu verdanken. Der Arzt regte Herbeck, der unter einer angeborenen Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, einer sogenannten Hasenscharte, litt und starke Sprechstörungen hatte, dazu an, es mal mit dem Schreiben zu versuchen.

Navratil hatte schon als junger Arzt erkannt, dass Menschen, die psychiatriert sind, sehr wohl Kunst hervorbringen können – Kunst, die der Kunst von nicht psychiatrierten Menschen ebenbürtig ist. Daher schuf Navratil auf dem Gelände der österreichischen Anstalt Gugging das sogenannte Künstlerhaus, in dem Johann Hauser, August Walla und Oskar Tschirtner malten und mit ihren Bildern hohe Preise auf dem Kunstmarkt erzielten. Ernst Herbeck oder Ernst Mach dichteten in diesem Haus.

Navratil gab den Patienten, die künstlerisch arbeiten wollten, ungewöhnlich große Freiräume, die diese nicht unbedingt zu schätzen wussten. Herbeck jedenfalls, der zehn Jahre vor seinem Tod entlassen worden war und für einige Monate in einem Altenheim lebte, wünschte sich bald wieder zurück nach Gugging. Dies wurde ihm gewährt. Die Nervenheilanstalt, in der er so lange unfreiwillig interniert gewesen war, wurde nun auch seine letzte Wohnadresse.

Herbeck war auch insofern ein ungewöhnlicher Dichter, als er offenkundig keinen Schreibzwang verspürte. Alle seine Texte, die jetzt in dem Band „Der Hase!!!!“ veröffentlicht worden sind, entstanden auf Zuruf: Navratil nannte Herbeck einen möglichen Titel oder gab ein Stichwort vor, Herbeck schrieb daraufhin einige Zeilen, die das Thema aufnahmen oder es spielerisch umgingen. Anschließend lasen Herbeck oder Navratil die Zeilen noch einmal laut vor. Dann galt der Text als abgeschlossen. Korrigiert hat sich Herbeck so gut wie nie. Dies erklärt auch die eigentümliche Interpunktion in vielen seiner Texte, die mehr oder weniger markanten orthografischen und grammatikalischen Fehler, aus denen sich manchmal neue, noch nie zuvor niedergeschriebene Sinnzusammenhänge ergeben.

Das liest sich zum Beispiel so wie das Gedicht unter dem von Navratil vorgegebenen Titel „Der Psychiater“: „Der Psychiater ist die Sorge des Patienten. / Der Psychiater dankt und denkt über den Patienten. / Der Psychiater denkt und schützt die Worte des Patienten.“ Herbeck spielt hier mit der Sprache, scheint sich bedanken zu wollen, um dann, in einer letzten Volte, die Worte des Patienten dem Psychiater als Gedanken unterzuschieben.

Derartige Sinnverschiebungen nimmt Herbeck immer wieder vor. In „Peter Handke“ heißt es: „Dichter Handke wird noch mehr / Dichten wenn er trinkt. Und / Schulden macht Handke hat haare / Am Kopf und wird sie sich schneiden / lassen wollen. Der Herr Friseur ist / Herr Dr. Navratil bitte.“ Navratil erkannte schnell, dass Herbeck zwar nur auf Zuruf dichtet, doch er sah auch das immense poetische Potenzial von Herbecks Texten.

Auch die Literaturwissenschaftlerin Gisela Steinlechner, die den Band „Der Hase!!!!“ herausgeben hat, ist davon überzeugt. Ein Viertel der im Buch enthaltenen etwa 200 Texte wird zum ersten Mal veröffentlicht – und damit ist Herbecks Nachlass aber noch längst nicht erschlossen.

Steinlechner beschäftigt sich in ihrem Nachwort allein mit Herbecks Poetologie und betrachtet Herbecks Leben genau so, wie man es tun sollte: als Material des Poeten. Sie zeigt mit ihrer Auswahl, wie sehr sich Herbeck selbst als Dichter verstanden hat und dass die Texte eben nicht, wie manche glauben, ein unverfälschter Ausdruck der Seele sind. Im Gegenteil. Die Effekte sind bewusst gesetzt: „Je größer das Leid / desto tiefer der Dichter / Umso härter die Arbeit / Umso tiefer der Sinn“. Was zunächst wie ein Gemeinplatz daher kommt, schwingt in Verzweiflung um. An anderer Stelle heißt es: „Ein Gedicht ist eine / Voraussagung. / Das Gedicht ist ein / Varum. Der Dichter / ordnet die Sprache / in kurzen Sätzen. / Was über ist, ist das / Gedicht selber.“

Danach gefragt, was er von der Dichtung halte, antwortete Herbeck einmal: „Sie ist nur vorübergehend beim Menschen.“ Die Dichtung des Ernst Herbeck ist nicht nur vorrübergehend, sie ist flüchtig. Herbeck fängt die Sprache ein, zwängt sie in kurze Texte – und entlässt sie wieder. So entsteht nichts anderes als verstörende Schönheit.

■ Ernst Herbeck: „Der Hase!!!!“ Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013. 264 Seiten, 22 Euro