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Archiv-Artikel

Zwei Stühle auf leerer Bühne

Der Andrang an Studienbewerbern ist unendlich groß. Die Anforderungen extrem hoch. Wer einmal die Aufnahmeprüfung geschafft hat, glaubt sich bereits auf Erfolgskurs. Doch dann kommt der Alltag in der Hochschule für Musik und eine ganz neue Härte beginnt

VON ELISABETH WAGNER

„Zu jung!“ So hatte es gleich bei der Aufnahmeprüfung geheißen. Sehr begabt, aber nicht erfahren, nicht robust genug für die Opernregie. Nadja kämpfte gegen das Urteil. Sie werde hart an sich arbeiten, versprach die Bewerberin, wenn nötig, werde sie gar nicht mehr aufhören zu arbeiten. Der Professor war gerührt.

Höflich wirkt sie, ernsthaft und konzentriert. Sie könnte eine Tänzerin sein, so präzise gerät ihr jede Geste. Nadja wartet im Probenraum. Drei Jahre ist die Aufnahmeprüfung an der Hanns-Eisler-Hochschule jetzt her. Nadja lächelt, so als wisse sie nicht genau, wie groß der Abstand zwischen heute und damals tatsächlich ist.

Sie erinnert sich an den das erste Mal, als sie mit ihren Kommilitonen in Berlin in der Oper war, gespielt wurde „Werther“ von Jules Massenet. Nach der Vorstellung hatte Nadja gesagt, dass es ihr nicht gefallen habe. Die Inszenierung habe verhindert, dass sie an ihren Lieblingsstellen hatte weinen können. Nadja, mit 19 die jüngste, erntete heftiges Kopfschütteln. Sie könne das unmöglich ernst meinen, ein solcher Standpunkt sei völlig naiv. Nadja fühlte sich blamiert. Der Regie, so hatte sie den Eindruck, sei sie intellektuell nicht gewachsen. „Und jetzt …“, beginnt Nadja einen Satz und wendet sich ab wie zur Flucht. Das Vordiplom steht kurz vor der Premiere, der erste eigene Opernabend.

Monatelang hat sie gegrübelt, hat sich den Kopf zermartert über „La voix humaine“ von Francis Poulenc, über die Inszenierung einer Oper, die nach dem Libretto von Jean Cocteau nur eine einzige Solorolle bereithält und die Nadja, je länger sie darüber nachdachte, dennoch immer aufwendiger erschien. Ein erstes Bild hatte ihr lange nicht einfallen wollen, und als es ihr schließlich eingefallen war – zwei Stühle auf leerer Bühne –, fand es der Professor eher langweilig und schwach.

Doch Nadja wollte diesen Anfang nicht wieder hergeben. An etwas müsse sie sich festhalten, sagte sie, und eine erste glückliche Probenphase brach an. Bis Renate, die Sängerin, aufgerieben und müde von den Konkurrenzkämpfen an den Opernhäusern, nicht mehr wollte und konnte. Nadja sah hilflos zu, bis Annika, eine Freundin und Gesangsstudentin, die Rolle übernahm. Nun singt Annika, gut zehn Jahre jünger als Renate und unverletzt in ihrem Stolz und ihrem Glauben an eine blendende Zukunft, die Rolle einer verlassenen Frau.

Gemeinsam haben sie für diese Rolle ein schwarzes, tief dekolletiertes Cocktailkleid ausgesucht. Annika trägt es zu jeder Probe. Auch heute, an einem Dienstag, keine drei Wochen vor der Premiere. „Bist du so weit“, fragt Nadja, und Annika, von der Korrepetitorin am Flügel daran erinnert, bitte nicht wieder zu „triolig“ zu werden, schleudert ihre gelben Prinzessinnenschuhe von den Füßen und nimmt ihre Position auf der Bühne ein.

Die junge Frau im schwarzen Kleid kauert am Boden, neben sich das Telefon. Tranceartig greift sie zum Hörer. Ein letztes Mal ruft der Geliebte an. Er wird morgen eine andere heiraten, allein das ist sicher. Die junge Frau hat versucht, sich das Leben zu nehmen, der Arzt war eben da. Doch davon erzählt sie ihrem Liebhaber nichts. Über Briefe, die sie zurücksenden soll, reden sie, über das Abendessen, für das sie angeblich außer Haus gewesen sei.

Es sei ihr wichtig, hatte Nadja erklärt, diese Figur nicht einfach zum Opfer einer besinnungslosen Verzweiflung zu machen. Stolz in ihrem Schweigen soll sie sein, fähig zu verwegener und trauriger Verstellung. Sie fühle sich dieser Frau nah, hatte Nadja gesagt, und dazu gelächelt, als habe man sie bei einer eitlen Übertreibung erwischt.

„Genauigkeit“ – das ist das höchste Lob. Ob Annika nicht bitte weniger mädchenhaft, weniger flüchtig wirken könnte, und ob sie den Arm nicht stärker führen sollte. „Vielleicht so“, sagt Nadja, und wäre es nicht besser, wenn Annika den Tisch tranceartiger entlangschreiten würde? Ob sie einmal gesehen habe, wie sich in der Gründgens-Inszenierung das Gretchen im Kerker auf Faust zu- und gleichzeitig auch wegbewegt? „Nein“, erwidert Annika, und Nadja bedauert. „Viel besser“, lobt sie, als die Geste schließlich mutiger und treffender gelingt. Nach der Pause fällt Annika in alte Fehler zurück, ihre Darstellung gerät kokett, mädchenhaft verspielt. „Das haben wir doch besprochen“, sagt Nadja, so leise, dass man die Enttäuschung darin hört.

Am Ende der Probe herrscht minutenlanges Schweigen. Annika schaut gedankenverloren aus dem Fenster und raucht. „Heute warst du streng“, sagt sie, und Nadja wendet sich erschrocken um. „Wirklich?“ Sie wolle so nicht sein, sagt sie: „Streng.“ Zu oft würden in der Oper die Sänger „wie Puppen“ über die Bühne geschoben. Im Grunde, sagt sie, fürchte sie sich fast vor den Sängern. Und wie schwer es gefallen sei zuzugeben, für die eine oder andere Stelle noch keine Idee zu haben. Nadja zieht ihre Stirn in Falten. Müde sieht sie aus, blass und schmal.

Zu Beginn ihres Studium hat sie die Grenze zur Erschöpfung weit überschritten. Herumgeirrt ist sie, ängstlich, eingeschüchtert, bedacht darauf, jeden Anschein eines Fehlers zu vermeiden. Keine Literaturempfehlung, der sie am Anfang ihres Studiums nicht gefolgt sei, kein Vortrag, kein Seminar, das sie ausfallen ließ oder nicht ansah wie eine letzte entscheidende Bewährung. Begraben unter Ansprüchen und 1.000 Bildern darüber, was man wissen müsste und doch nicht weiß, konnte sie eines Tages nur noch in den Zug steigen und fliehen. Noch unterwegs rief sie zu Hause an. Die Eltern könnten den Möbelwagen bestellen, nie würde sie diese entsetzliche Stadt wieder betreten.

Auf Spaziergängen, im Garten der Eltern kam sie wieder zu sich. Ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen. Nadja solle wenigstens bis zum Vordiplom durchhalten. Anschließend könne sie sich immer noch entscheiden. Tierärztin wollte Nadja einmal werden, Lehrerin wie die Mutter, oder Musikerin wie ihr Stiefvater. Als zweiter Trompeter im Orchester des Kaiserslauterner Pfalztheaters hatte er sie unterrichtet und gesagt, der Orchestergraben sei nichts für sie. Nadja solle weiter ins Licht. Sie schreibt es ihrem Temperament zu, einer gewissen Leidenschaftlichkeit.

Nach der Krise ist sie zurückgekehrt. Weniger menschenfeindlich sich selbst gegenüber, weniger absolut. Vielleicht. Das Hochschulleben nimmt allerdings keine Rücksicht darauf. Keine Probe bleibt mehr unbeobachtet. Freunde, Professoren, der Schauspiellehrer, der Bühnenbildner, sie alle sehen vorbei. Nadja versucht, sich nicht davon stören zu lassen. Auch nicht von einem alten Professor der Operngeschichte, der gewohnheitsmäßig auf einem Stuhl vor dem Flügel Platz nimmt. Nadja sei dieser jungen Frau am Telefon zu ähnlich, hatte er vor dem Probenbeginn geglaubt sagen zu müssen, und Nadja, sonst dankbar für jede Kritik, hatte sich über diese Bemerkung geärgert. Woher, fragte sie sich, wollte der Professor das wissen?

Man hat ihr eine Regieassistenz angeboten im Stadttheater Osnabrück. Der Leiter der Abteilung Regie empfiehlt ihr zu gehen. Nadja solle Erfahrungen sammeln, für ein Jahr ganz in die Praxis eintauchen. Danach solle sie wieder kommen und ihr Studium beenden. „Sie sind doch noch so jung“, sagte der Leiter der Abteilung Regie. Nadja hatte Mühe, wegen dieses Satzes nicht beleidigt zu sein.

Am Premierentag, dem Tag der Entscheidung über ihr Vordiplom, fährt sie früh ins Theater. Sie kümmert sich um den Aufbau, um Annikas Make-up. Annika hatte zuletzt ihre Stimme geschont. Das sei nötig, hatte die Sopranistin ihrer Regisseurin erklärt, Nadja solle sich keine Sorgen machen. Doch Nadja machte sich Sorgen, Große sogar. Ohnmächtig musste sie zuhören, wie diese Oper, Poulencs leidenschaftliche Musik in der Probe ins Verhaltene abrutschte. Dass man doch zum Schluss fast sicher davon ausgehe, dass man scheitern werde, und dass man die Niederlage, die Blamage einfach wird aushalten müssen, hatte sie gesagt und gehofft, es würde nicht so weit kommen.

Ein kurzer Moment war es nur. Und doch, sagt Nadja, habe sie alles verloren geglaubt. Annika war hängen geblieben, wusste an einer Stelle nicht weiter. „Was, wenn die Souffleuse das falsche Stichwort gibt?“ Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Vom Lichtpult aus lauschte sie in eine ihr unerträgliche Stille.

Am Morgen nach der Aufführung rief ihr Professor an. Die dreiköpfige Prüfungskommission habe entschieden. Eine 1,7. Tage nachher wird auf 1,3 korrigiert. „Albern“ finde sie diese Diskussion, sagte Nadja, die schon fast unterwegs war nach Osnabrück. Sie werde lernen, sich weiter entwickeln, Erfahrungen sammeln, bestimmte sie zuletzt und zuckte mit den Schultern. Wochen später klingt sie am Telefon aufgekratzt und verändert.

Der Alltag einer Theatersaison halte sie in Atem. Eine Chorprobe für „Die Zauberflöte“ sei es heute gewesen. Abends zuvor hatten die Sänger in „Nabucco“ gesungen. Sie habe sich bemüht, die verärgerte Stimmung zu heben, sagt Nadja, belustigt über ihre ständige Suche nach Harmonie. Übrigens habe sie wieder mit dem Trompetenspielen begonnen, und sie habe sich verliebt. Frei wolle sie später arbeiten, so viel sei ihr inzwischen klar geworden. An das vergangene Jahr, an die erste eigene Inszenierung denke sie zurück wie an ein Glück. Und sie sei froh darüber, sagt Nadja, dass sie endlich aus jener Starre erwacht sei, die am Premierenabend und noch Tage danach auf ihr gelastet habe. Zwischen vielen Gratulanten sei sie sich fremd und deplatziert vorgekommen. So als gehöre sie nicht dazu.

ELISABETH WAGNER lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin