Und es gibt doch Sex in Russland!

TABUS In „Leise Musik hinter der Wand“ von Viktorija Tokarjewa ist die Protagonistin erst mit einem KGBler und dann mit einem Bürgerrechtler zusammen. Ein Roman mit expliziten Reverenzen an Tschechow

Eine solche Rückschau wird in der russischen Literatur noch immer selten vorgenommen

VON CHRISTIANE PÖHLMANN

In Russland gebe es keinen Sex – diese Worte, bei einer Telebrücke, einer Direktübertragung also, zwischen den USA und der UdSSR vor knapp 25 Jahren gefallen, machten eine Weile als guter Witz die Runde. Dass sie mit der Realität nicht das Geringste zu tun hatten, hat nie jemand bezweifelt – ebenso wenig wie die Tatsache, dass die unglückliche Formulierung einen durchaus wahren Kern hatte: Sexualität, vor allem weibliche, war extrem tabuisiert, männliche Homosexualität kriminalisiert.

Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt nur, wie wenig sich an diesen Verhältnissen geändert hat, man denke an das gerade erlassene Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“.

Diese Tabuisierung ging mit einer rigiden Rollenfestschreibung einher, die dann vor allem ältere und alte Frauen traf: Sie durften nun wirklich keinen Sex haben.

Dies ist einer der Hintergründe, vor dem der zuletzt auf Deutsch erschienene Kurzroman Viktorija Tokarjewas „Leise Musik hinter der Wand“ zu lesen ist. Die weibliche Protagonistin Ariadna verlässt erst ihren Mann, um mit ihrem Geliebten Leon, einem KGBler, zusammenzuleben. Nach dessen Tod landet sie dann im „hohen“ Alter von sechzig Jahren mit dem Bürgerrechtler Valentin auf dem Sofa und wagt mit ihm den Neuanfang. Nicht einmal der Frontwechsel ist für sie ein Problem, denn: „Ich habe nicht die Funktion geheiratet, sondern den Menschen.“

Mit diesem Satz ist auch gesagt, worum es darüber hinaus in dem Roman geht. Tokarjewa nutzt das Schicksal Ariadnas, um die Möglichkeiten eines individuellen Deutungs- und Verhaltensspielraums in einer autoritären Gesellschaft auszuloten und einen geschichtlichen Abriss zu wagen. Ja, sicher, die Zeiten haben sich geändert – mit dem Ergebnis, „dass sie einem die Zähne nicht mehr ausschlagen. Dafür schicken sie einen jetzt in die Klapsmühle.“

Eine solche Rückschau wird in der russischen Literatur noch immer selten vorgenommen, noch seltener dann auch übersetzt; ein herausragendes und empfehlenswertes Beispiel ist nach wie vor Grigori Rjaschskis Roman „Moskau, Bel Étage“. Die 1937 geborene Tokarjewa hat lange Zeit in Russland nur wenig publizieren können, ihr eigentlicher Erfolg setzte erst ab den 1990er Jahren ein. Ihre Texte, meist Storys und Kurzromane, sind deutlich an Tschechow geschult, dem sie auch immer wieder explizite Reverenzen erweist. Der lakonische, dialogarme Ton ihrer Werke hatte zwischenzeitlich etwas nachgelassen, dennoch hat der Diogenes-Verlag sie weiter gepflegt.

Mit „Leise Musik hinter der Wand“ ist ihr nun zwar nicht der ganz große Wurf gelungen, ein lesenswerter Text aber allemal. An einzelnen Stellen mag sie hart am Kitsch oder der Schmonzette vorbeischrammen, auch ein wenig Ostalgie fehlt nicht. Wettgemacht wird dies wiederum durch Momente von gelungener Konzentration und Eindringlichkeit. Und das ist schon einiges.

Viktorija Tokarjewa: „Leise Musik hinter der Wand“. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Diogenes, Zürich 2013, 170 S., 19,90 Euro