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Archiv-Artikel

Mehr als eine Handvoll Salz

INDIEN Gandhi nahm sich, was ihm eh gehörte: Salz. Achtzig Jahre später folgt der Fotograf Wolf Böwig der Route des Salzmarschs noch einmal

VON ANJA MAIER

Ein Gesetz wollte der Mann übertreten. Ein absolut unsinniges, diskriminierendes Gesetz. Am 12. März 1930 machte sich Mohandas Karamchand Gandhi, genannt Mahatma, auf den Weg von der indischen Stadt Ahmedabad in das 385 Kilometer entfernte Dandi. Vierundzwanzig Tage war er unterwegs, um dort an der Küste des Arabischen Meeres eine Handvoll Salz aufzuheben. Es war ganz leicht.

Die Schlichtheit dieser Handlung – ein Mann nimmt sich, was seinem Volk ohnehin zusteht – ist es, was den Salzmarsch des Mahatma Gandhi zur historischen Tat gemacht hat. Aus dem Handgriff eines Einzelnen wurde eine riesige Bürgerbewegung. Gewaltloser Widerstand gerann zu Geschichte, die trotz vieler Opfer letztlich in die Befreiung der Inder von der britischen Kolonialmacht mündete.

Gandhi, der Anwalt aus Gujarat und Führer der Indischen Kongresspartei, war sechzig Jahre alt, als er beschloss, sich das Salz zu nehmen, als er seine Landsleute aufforderte, es ihm gewaltlos gleichzutun. Die britischen Kolonialisten hatten in Indien ein Monopol auf Salz verhängt, jede Form der Gewinnung, des Transports und des Handels mit Salz war nur ihnen vorbehalten.

Gandhi brach dieses Gesetz, und er war alles andere als ein Träumer, als er das tat. Er wusste, dass seine Landsleute bereit waren zum Widerstand. Zehntausende schlossen sich ihm an. Sie begannen, ihr Salz selbst zu gewinnen, indem sie Salzwasser in einer Schüssel in die Sonne stellten und verdampfen ließen. Und sie verkauften es weiter, steuerfrei, wohlgemerkt. Sie nahmen sich, was ihnen zustand.

Achtzig Jahre ist das nun her. Indien hat sich von den Kolonialisten befreit und ist seit 1947 ein unabhängiger demokratischer Staat. Aber inneren Frieden, Gewaltlosigkeit, wie Gandhi sie vorgelebt hat, gibt es bis heute nicht. Als vor acht Jahren Hindus von radikalen Muslimen brutal ermordet wurden, reiste der Fotojournalist Wolf Böwig nach Gujarat, um für die New York Times zu berichten. Von dort aus, erfuhr er, war einst Gandhi zu seinem friedlichen Salzmarsch aufgebrochen. Er nahm sich vor, später noch einmal wiederzukommen und die Route von Ahmedabad nach Dandi abzulaufen.

Vor genau einem Jahr hat er es getan. „Das war mir ein persönliches Anliegen“, sagt der 46-Jährige. Böwig hat, genauso wie Gandhi, vierundzwanzig Tage für die Strecke gebraucht. „Es war die Zeit vor der großen Hitze“, sagt er, „man trifft andere auf diesem Weg, man tauscht Blicke.“

Er hat genau hingeschaut und seine Bilder gemacht. Die analoge Schwarz-Weiß-Technik verleiht seinen Fotos eine Flüchtigkeit, man sieht: Dieser Mann ist als Beobachter unterwegs. „Aber in gewisser Weise ist es ein Weg zu sich selbst, ja“, sagt Böwig.

Er weiß, was Gewalt bedeutet. Seit 1988 arbeitet er als Fotograf, meist berichtet er aus Kriegsgebieten. Er hat viel Schlimmes gesehen: in Osttimor, Birma, Bangladesch, in Afghanistan, Ruanda und anderswo. Menschen, die einander töten, verletzen, demütigen. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet. Dass er auf den indischen Subkontinent gereist ist, um den Weg des Friedens zu gehen, zeigt, dass der Mann aus Hannover Krieg noch immer für die schlechteste Lösung hält. Gandhis gewaltfreier Protest, sagt Wolf Böwig, habe ja noch immer eine universelle Botschaft. „Jeder versteht sie.“