: Das gelingende Leben
Feine Unterschiede (5): Schon klar, dass die Neue Bürgerlichkeit derzeit vor allem den Rückzug des Staates kompensieren soll. Aber die bürgerlichen Werte sind dadurch noch längst nicht diskreditiert
■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel
VON JENS HACKE
Dem Begriff der Bürgerlichkeit hätte vor nicht allzu langer Zeit wohl kaum jemand eine besondere Debattentauglichkeit bescheinigt. Das Bürgertum als Klasse schien passé, bildungsbürgerliche Orientierungen ausgestorben, und vom Bürgersinn zu reden wäre den meisten vor dem Hintergrund einer hochdifferenzierten modernen Gesellschaft hoffnungslos antiquiert vorgekommen. Hinzu kommt, dass das „Bürgerliche“ bei deutschen Intellektuellen, links wie rechts, nie hoch im Kurs stand. Sie sahen ihre ärgsten Feinde von jeher in den „Scheißliberalen“. Noch die Achtundsechziger richteten ihre Angriffe gegen die „bürgerliche Ideologie“, ein Verfallsprodukt des „Spätkapitalismus“.
Gleichzeitig konnte niemand klar sagen, was Bürgerlichkeit eigentlich heißt. Ging es um Lebensstile, um kulturelle Elemente oder um Politisches? Diese Unbestimmtheit ist geblieben. Doch unübersehbar deutet die heute fühlbare Renaissance der Bürgerlichkeit darauf hin, dass es eine gewisse Sehnsucht gibt, diesen Begriff mit positiven Inhalten zu füllen. Dabei kommt man gern vom Hölzchen aufs Stöckchen. Ob 15-Jährige wieder Tanzkurse machen, ob in Berliner Altbauwohnungen wieder Stoffservietten gereicht werden oder ob die Besserverdienenden Lust auf ein drittes Kind bekommen – solche Phänomene sollen den Trend zu einer neuen Verbürgerlichung anzeigen. Sie sind allerdings nur begrenzt aussagekräftig, wenn es um eine konkrete inhaltliche Bestimmung von Bürgerlichkeit geht.
Interessanter als Benimmregeln und Einrichtungsfragen sind die politischen Implikationen einer Bürgerlichkeitsdebatte. Hört man nämlich genauer hin, dann bemerkt man eine Veränderung in der politischen Rhetorik, aber auch in der Reflexion des Politischen, die Einfluss auf unser Verständnis von Staat und Politik haben könnte. Nach ihrem Wahlkampfdesaster entdeckt die Bundeskanzlerin die Bürgerfreiheit neu und appelliert in Kennedy-Manier an den aktiven Beitrag des Einzelnen; „mehr Freiheit wagen“ und „Überraschung durch das Mögliche“, so lauten die hoffnungsvollen Formeln.
Liberalkonservative Vordenker wie Paul Nolte und Udo Di Fabio möchten klassisch bürgerliche Werte zu politischen Orientierungsnormen machen und entwerfen eine neue Kultur der Freiheit in der bürgerlich-familiären Gebundenheit. Wie in der amerikanischen Kommunitarismus-Debatte der Achtzigerjahre werden nun auf deutschem Boden einem Laissez-faire-Liberalismus die Grenzen aufgezeigt, bevor ein solcher überhaupt Fuß gefasst hätte. Der deutsche Sonderfall scheint es zu sein, gegen Staatsbevormundung und Neoliberalismus zumindest theoretisch gleichzeitig angehen zu wollen.
Andererseits scheint der positive Gebrauch einer Bürgerlichkeitssemantik nur das zu besorgen, wogegen sich ein Großteil der intellektuellen Elite in der alten Bundesrepublik noch sträubte: den Gebrauch eines der ältesten Begriffe der politischen Philosophie. Sollte man das als Zeichen für eine „Normalisierung der Berliner Republik“ (Habermas) deuten? Gerade aus dem Umkreis der Frankfurter Schule machte man lange Zeit gute Gründe dafür geltend, dass nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz keine Rückkehr zu konventionellen Moralvorstellungen mehr möglich sei. Weil man sich nicht sicher war, ob die Schwäche des Bürgertums oder dessen antisemitische und totalitäre Anfälligkeiten für den Weg in die Katastrophe verantwortlich zu machen sind, wollte man sicherheitshalber komplett mit vermeintlich kontaminierten Traditionsbeständen aufräumen.
Dieser Tabula rasa fiel auch der an sich so unschuldige Begriff der Bürgerlichkeit zum Opfer. An Aristoteles anknüpfende politische Denker wie Dolf Sternberger und Wilhelm Hennis blieben mit ihren Reanimierungsversuchen des Bürgers in der frühen Bundesrepublik deshalb einsame Rufer in der Wüste. Eine Zeit, die vom reibungslosen Funktionieren der Industriegesellschaft fasziniert war, die auf Wachstum und Planung setzte, hatte keinen Sinn für diesen Schlüsselbegriff des Politischen, dessen deutscher Kontext in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall darstellt.
Bekanntlich umfasst der Bürger ein Bedeutungsfeld, das Citoyen und Bourgeois einschließen kann. Der anglophile Soziologe Ralf Dahrendorf hat am folgenreichen hegelianischen Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft immer den fehlenden Freiheitssinn beklagt. Der Mangel an bürgerlicher Tugend und Freiheitssinn erklärt dann den deutschen Sonderweg in die Moderne, wie Dahrendorf ihn in seinem epochalen Werk über „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ vor vierzig Jahren beschrieben hat. Zur Verwestlichung gehörten nicht nur für ihn die Befreiung aus dem nationalen und historischen Muff der deutschen Vergangenheit und die Hinwendung zu einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die von Marktwirtschaft, Bildungschancen, vom Wettbewerb der Eliten in der Demokratie geprägt ist.
Gegen diese „kalten Projekte“, die im Sinne Dahrendorfs deswegen vorzuziehen seien, weil sie „keinen Anspruch erheben auf die Herzen und Seelen der Menschen“, setzte die prosperierende Bundesrepublik auf die Heimeligkeit des treu sorgenden Wohlfahrtsstaats.
Solange die Illusion des funktionierenden Wohlfahrtsstaats aufrechterhalten werden konnte, fristete die Bürgerlichkeit im politischen Sinne ein Schattendasein. Einsatz und Engagement für das Gemeinwesen blieben verdächtig in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung und Individualisierung dominierten – und in der die Erinnerung an die Überidentifikation mit der „Volksgemeinschaft“ noch frisch war. Erst die Krise der Sozialsysteme offenbart, dass der Staat in besonderer Weise vom Zusammenhandeln und vom Konsens seiner Bürger abhängig ist.
Es ist deswegen kein Zufall, dass am häufigsten jene „bürgerlichen Werte“ im Munde geführt werden, die den Rückzug eines Staates kompensieren sollen. In einem Staat, der unter Sparzwang und vor demografisch absehbaren Problemen steht, avancieren Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Familie unter diesen Umständen aus erklärbaren Gründen zu Leitvokabeln einer neuen, im Entstehen begriffenen „bürgerlichen Ideologie“. Eine „Du bist Deutschland“- Kampagne macht dann auch dem letzten Bundesbürger klar, dass die vormals an den Staat gestellten Ansprüche nun auf ihn selbst zurückfallen. Es schadet nicht, sich dabei etwas patriotischer zu fühlen.
Aber ist diese neue Bürgerlichkeit durch ihre strategischen Interessen schon diskreditiert? Nolte und Di Fabio wiederholen eben nicht nur die spätestens seit Hayek bekannten liberalen Standpunkte für eine Entlastung des Staates; sie argumentieren anthropologisch mit menschlichen Grundbedürfnissen, indem sie ganz grundsätzlich problematisieren, wie wir leben möchten. Es gehört Mut dazu, heute aristotelisch nach dem „guten Leben“ zu fragen und damit „Wohlfahrt“ jenseits des Materiellen definieren zu wollen. Bürgerlichkeit ist aus dieser Warte eine geeignete Integrationsvokabel, denn sie bezeichnet zum einen Verkehrsformen der Entfremdung, die es uns leichter machen, miteinander umzugehen. Schon Helmuth Plessner hat die Distanzkultur von Konvention, soziale Rollen und „Masken“ dafür geschätzt, dass sie Teilidentitäten ermöglichen und man sich seinem Mitmenschen nur partiell zumutet.
Zum anderen kann mit Bürgerlichkeit ein Set von Traditionen und Werten beschrieben werden, die für viele immer noch ein „gelingendes Leben“ ausmachen – sind dies nun familiäre Geborgenheit, religiöse Orientierung oder kulturelle Heimatgefühle. Das schließt nicht aus, eine gesunde Politisierung des Bürgerbegriffs auch in Deutschland voranzutreiben. Hannah Arendt, deren hundertsten Geburtstag wir in diesem Jahr begehen werden, könnte mit ihrem Enthusiasmus für bürgerliches Gemeinschaftshandeln wieder aktuell werden. Fragen des Politischen sind für sie die öffentlichen Angelegenheiten, die die Menschen in freier Debatte austragen. Triebfeder des bürgerlichen Handelns bleibt der Wunsch, sich in einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen auszuzeichnen, verdient zu machen.
Aus diesem Blickwinkel verliert die Alternative, ob der Staat für die Bürger oder die Bürger für den Staat da sind, ihre Brisanz. Idealerweise wäre es die Aufgabe eines aktiven Staates, die Bürgergesellschaft zu stärken und zu fördern, um die traditionelle deutsche Gegenüberstellung von Staat auf der einen und Gesellschaft auf der anderen Seite aufzuweichen.
Von einer Auseinandersetzung um Bürgerlichkeit wird man keine weltumstürzenden Neuigkeiten erwarten können. Im Gegenteil, sie dient der Vergegenwärtigung des Selbstverständlichen. Denn wir haben ja gar keine andere Wahl, als an einem Idealbild des Bürgers festzuhalten. Es ist der einzige Begriff, mit dem wir das menschliche Bedürfnis nach Individualität und Gemeinschaftsbindung gleichermaßen ausdrücken können. Nach dem Wegfall jeder Systemalternative und nach der „Ankunft im Westen“ ist es ein Zeichen von Normalisierung, dass die liberale Demokratie in Deutschland nun auf sich selbst zurückgeworfen ist. Sie benötigt eine neue Begründung ihres inneren Zusammenhalts. Die Debatte um eine neue Bürgerlichkeit reflektiert auf gesunde Weise die Suche nach dem Gemeinwohl im klassischen Sinn.
Der Autor ist Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, im April erscheint bei Vandenhoeck & Ruprecht sein Buch „Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik“.Am 17. 1. schrieb in dieser Reihe Norbert Bolz, am 24. 1. Mark Terkessidis, am 31. 1. Jan Engelmann und am 7. 2. Isolde Charim.