: Arbeiterkinder bekommen eine Lobby
HOCHSCHULE Nur 11 Prozent der StudentInnen an Unis kommen aus niedrigen sozialen Milieus. Zwei Projekte wollen das ändern
VON NADINE LORENZ UND MARTIN NIEWENDICK
Katja Urbatsch, Leiterin der Initiative arbeiterkind.de ist selbst Spross einer „hochschulfernen“ Familie. Wie eine „fremde Welt“ wirke die akademische Sphäre auf Arbeiterkinder. Urbatsch sieht den Hauptgrund hierfür ineinem enormen Informationsdefizit. Die SchülerInnen hätten schlicht keine Ahnung, was sie an der Uni/FH erwartet. „Es ist für viele normal, den Ausbildungsweg der Eltern zu nehmen“, auch, weil Eltern die eigenen Kinder „vor dem Scheitern“ im großen Unbekannten bewahren wollen. Ihr Ansatz: ein umfangreiches Mentorenprogramm, das 2008 ins Leben gerufen wurde. Über 1000, überwiegend post-studentische, BetreuerInnen sind ehrenamtlich im Einsatz. Diese, meist selbst Arbeiterkinder, gehen gezielt an Schulen, um ihren Schützlingen die Ängste zu nehmen und sie fit zu machen für die bestehenden Strukturen. Das Projekt finanziert sich hauptsächlich durch Spenden und Preisgelder, beispielsweise war arbeiterkind.de Gewinner des Wettbewerbs startsocial 2008. Die Resonanz, in den Medien wie an den Schulen, sei überwältigend positiv. Könnte sich hieraus eine Lobby für Arbeiterkinder entwickeln? Ihre Initiative sei schon eine Art Lobby, auch weil Urbatsch auf ihren Informations-Reisen in ganz Deutschland auf die Schwierigkeiten bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium aufmerksam macht.
Das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FiKuS) der Uni Münster verfolgt einen anderen Ansatz. Im Januar 2010 gab der FiKuS die erste Ausgabe des „Dishwasher“ heraus, ein Magazin, das sich an studierende Arbeiterkinder richtet. Das Referat, das es seit acht Jahren gibt, und sein Medium sind einzigartig in Deutschland. Warum ausgerechnet in Münster das erste FiKuS ins Leben gerufen wurde, erklärt Fabinger so: „Das ist ein subjektiver Eindruck, aber das bürgerlich-akademische Milieu ist in Münster sehr stark und Arbeiterkinder haben es hier besonders schwer.“ Die Artikel des „Dishwasher“ transportieren gesellschaftskritische Problematik mit philosophischer Auslegung von Marx und Bourdieu. Ob die Inhalte auch bei der Zielgruppe Arbeiterkind ankommen, ist nach einer Ausgabe noch nicht absehbar. Die Resonanz auf das Projekt sei jedoch groß, und das Ziel, die Problematik bundesweit bekannt zu machen, Lobbyarbeit zu betreiben und Arbeiterkindern ein Forum zu bieten nach Fabinger auf einem guten Weg. „Ich hoffe, dass das Thema zum Mainstream wird und das Profil von Hochschulen verändert, hin zu mehr Aufmerksamkeit für soziale Brennpunkte.“
Während arbeiterkind.de über 70 lokale Ableger in ganz Deutschland besitzt, gibt es für das Projekt „Dishwasher“ und den FiKuS bislang noch keine Nachahmer. Allerdings kooperieren beide Projekte in Münster, um die öffentliche Diskussion aktiv zu fördern.
Die Probleme von Arbeiterkindern in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken ist für Fabinger wie für Urbatsch erst der Anfang.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen