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Archiv-Artikel

Arbeiten gegen die Kassenwindel

Wie lebt es sich im Niedriglohnsektor der Dienstleistungsgesellschaft USA? Die Journalistin Barbara Ehrenreich ist in die Welt des „Jobwunders“ eingetaucht – und berichtete in der Reihe „American Voices“ von ihren Erfahrungen

An den nobel gekleideten Einlassern wagte man sich kaum vorbei. Der Kleine Saal des Konzerthauses wurde extra für den Vortrag geöffnet. Aber so ein bisschen gehört diese Pracht den BürgerInnen selbst – viele nahmen sich auch gleich ein Glas mit in den rosa leuchtenden Saal. Die Gespräche ließen ahnen, wer hergefunden hatte: „Ich melde mich morgen arbeitslos.“ „Wie, es gibt keine Übersetzung?“ „Volker Beck hat eine neue Brille.“ „Fand ich seltsam, dass in der taz keine Ankündigung für heute stand.“ Angekündigt hätte sein sollen: Barbara Ehrenreich, Autorin aus Florida, die unter dem Titel „On (Not) Getting By in America“ über ihre außergewöhnlichen Buchprojekte sprach.

Ehrenreich ist ausgebildete Chemikerin, die, durch den Vietnamkrieg radikalisiert, ihre wissenschaftliche Karriere für politischen Journalismus aufgegeben hat. Eingeführt als „Stimme des anderen Amerika, die manchen von uns in diesen dunklen Zeiten am Leben hält“, betrat sie als angenehme Erscheinung das Podium. Sie sprach frei und leidenschaftlich und garnierte ihre durchweg kämpferische Haltung mit gut gesetzten Pointen. Sie erzählte von der Arbeit an ihrem Buch „Arbeit poor“. Darin untersuchte sie die Folgen der von Clinton unterzeichneten Welfare Bill: wie es möglich wurde, dass die Arbeitslosenquote fällt, während die Armutsquote steigt. Und wie die Behauptung, Arbeit ermögliche das Überleben, zum Mythos wurde. Ganz zu schweigen von der Legende, aus Tellerwäschern würden Millionäre.

Ehrenreich hat sich im Rahmen der Recherche für das Buch in ihr fremdes Terrain vorgewagt. Sie hat gekellnert, geputzt und verkauft. „Immersionsjournalismus“ nennt sie diese zeitweise Verwandlung, die ihr eindrücklich gezeigt hat, dass Billig-Jobs anstrengender sind als das Fitness-Studio. Ehrenreich sammelte erstaunliches Material: Der obligatorische Drogentest bei jeder Einstellung sei ein reines Erniedrigungsritual. Der Persönlichkeitstest beinhalte Fragen wie: „Ich habe im letzten Jahr x Dollar von meinem Arbeitgeber gestohlen“, oder: „Ist es leichter zu arbeiten, wenn man ein bisschen high ist?“ Die so genannte unqualifizierte Arbeiterin wird für dumm verkauft – dabei erlebte Ehrenreich ihre Niedriglohnjobs eindeutig als große Herausforderung: In der Damenbekleidungsabteilung von Wal-Mart die runtergeworfenen Kleidungsstücke an sich ständig ändernde Plätze wieder einsortieren zu müssen, das erfordere Intelligenz und Konzentration – und man lerne, die Kunden zu hassen. An der Kasse im Supermarkt war die Klopause verboten, weshalb manche Kassiererinnen Windeln für Erwachsene trugen. Ehrenreich musste ihr Experiment schließlich aufgeben: Sie konnte von ihren Jobs die Miete nicht mehr bezahlen.

Barbara Ehrenreich ist eine radikale Mythen-Zerstörerin. In ihrem neuen Buch „Qualifiziert und arbeitslos“ rechnet sie mit der Annahme ab, dass Armut ein Resultat falsch getroffener Entscheidungen in der Ausbildungszeit sei. Als nächstes „wunderbar passende Sequel“ würde sie gern undercover im Milieu der Superreichen recherchieren – dazu fehlt ihr nur noch ein Verlagsvorschuss von mehreren Millionen Dollar, wie sie schmunzelnd anmerkte. Dann aber appellierte sie wieder ganz ernst an das Publikum in Europa: Es solle der Versuchung, das amerikanische Modell als Vorwand für „Reformen“ zu nehmen, widerstehen – „Wir brauchen Sie als Modell für eine egalitärere und gerechtere Gesellschaft!“, so schloss sie.

Bei der Fragerunde gab mancher zu erkennen, dass er seit 20 Jahren Fan der Autorin ist. Starkes Unbehagen an den US-amerikanischen Zuständen einte das Publikum: die Altlinken, die Studenten mit Zukunftsangst und die Diaspora-Amerikaner. Darüber grübelnd, warum es in den USA eigentlich keine Revolution gibt, ging man nach Hause. Ob das erwähnte „Anti-Sweatshop-Movement“ unter amerikanischen Studenten Hoffnung macht? Studenten, die sich darin üben, sich „den Schweiß des Arbeiters aus der dritten Welt“ hinter ihrem Uni-Sweatshirt vorzustellen? Wenigstens hatte der Fall einer Frau, die in Harvard putzte und die Familie mit den von den Studenten weggeworfenen Essensresten ernährte, Aufsehen erregt. JOCHEN SCHMIDT