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Archiv-Artikel

Ein Teil der eigenen Geschichte

Für eine ganze Generation linksalternativer Gruppen in der DDR war Rudi Dutschke ein wichtiger Bezugspunkt. Dass er die sozialistische Hoffnung aus den Klammern parteikommunistischer Zwänge entließ, machte ihn Robert Havemann ähnlich

von Wolfgang Templin

Wenn jetzt in den Kinos „Der rote Kakadu“ anläuft, der Jugend in der DDR um 1960 zeigt, wird dort das Bild einer Generation entworfen, zu der auch Rudi Dutschke gehörte. In den Krieg hineingeboren, ohne die Vorgeschichte erlebt zu haben, wuchsen sie in den Vierziger- und Fünfzigerjahren auf, teilten die Illusionen einer neuen sozialistischen Gesellschaft oder zerrieben sich an der Enge der Verhältnisse, brachen aus und flüchteten oder resignierten. Rudi Dutschke, protestantischer Christ und Mitglied der verfolgten Jungen Gemeinde im brandenburgischen Luckenwalde, wurde Sozialist aus Überzeugung und brach deshalb um so überzeugter mit der roten Diktatur. Für ihn war der Wechsel an die Freie Universität in Westberlin kein Abreißen aller Brücken zur DDR, sondern der konsequente Versuch, Freiheit und Sozialismus gesamtdeutsch anzustreben und den Weg dahin mit seinem Leben zu verbinden.

Für die Generation der zehn oder fünfzehn Jahre Jüngeren, in der DDR Geborenen und Aufgewachsenen war Rudi Dutschke eine Legende. Zugleich war er für viele von uns, auf verschiedene Weise, Teil der eigenen Geschichte. Auch nach dem Bau der Mauer kreisten die Gedanken von Jüngeren ständig um Gehen oder Bleiben, um die Frage des geteilten Himmels und die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

1968 kamen dann die Reisen nach Prag, die Panzer konnten das Ende aller Hoffnungen oder das Fortdauern eigener Illusionen bedeuten. Eine andere Seite war die Konfrontation mit der Studentenbewegung des Westens. Der Rudi Dutschke der Fernsehbilder und der Interviews, der Schock der Schüsse auf ihn und die Nachrichten von seinem Versuch, die schwere Verletzung zu verarbeiten, ins politische Leben zurückzufinden, drangen über die Grenzen. In den Siebzigerjahren wurde Rudi Dutschke für die alternative Szene in der DDR, für die Gruppen, die sich im Raum der Kirche und an ganz anderen Orten herausbildeten, zum wichtigen Bezugspunkt. Junge Gemeindemitglieder fragten am Beispiel Rudi Dutschkes nach dem Verhältnis von Christentum und Sozialismus. Auf dem Tisch unserer konspirativen trotzkistischen Studentengruppe lag Mitte der Siebzigerjahre Dutschkes „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“. Mit seinem Ansatz, Sozialismus und die deutsche Frage miteinander zu verbinden, hatten wir damals wenig im Sinn, umso mehr mit seinen Russlandanalysen und der Revolutionsperspektive.

Andere, offener arbeitende alternative Kreise in Ostberlin nutzten die Möglichkeit, sich mit Dutschke direkt zu treffen, der es einige Male schaffte, direkt in die DDR zu kommen. Unbehelligt blieb er dabei nicht. Für die offizielle DDR, die sich der terroristischen Mitglieder der RAF-Fraktion logistisch und kontrollierend annahm, diese in der DDR für weitere Aktionen vorbereitete oder mit einer zweiten Identität versehen stilllegte, blieb der mit offenem Visier kämpfende Rudi Dutschke eine Unperson. Ihn als Radikalen und Bürgerschreck abzustempeln und dennoch als Opfer der Bonner Reaktion zu vereinnahmen, war eine perfide Doppelstrategie.

Für mich und andere linke Überzeugungstäter in der DDR wurde der Dutschke der letzten Lebensjahre immer wichtiger. Sein Erfahrungsweg und seine Auseinandersetzung mit den Sackgassen der Radikalisierung und des K-Gruppen-Weges eines Teils der Achtundsechziger hatte Berührungspunkte mit unserer eigenen Identitätssuche. Die Nachricht von seinem plötzlichen, viel zu frühen Tod schockierte uns.

Mit einem umfangreichen Artikel zu den letzten Lebenswochen Rudi Dutschkes und den Umständen seines Todes wurde ich in Polen konfrontiert. Auf einer Sommerwanderung in den entlegensten Teilen der Beskiden fand ich in einer Berghütte das zerlesene Exemplar einer Samisdatzeitschrift, mit einem ins Polnische übersetzten Artikel aus Dänemark. Rudi Dutschke war im gesamten Ostblock präsent.

Später in den Achtzigerjahren, wir konnten schon längst nicht mehr reisen, stieß ich durch unsere Kontakte zu einem Teil der Grünen erneut auf Dutschke. Freunde aus Bremen erzählten von seiner Beteiligung an der Gründungsgeschichte der Grünen, von dem Versuch, ein neues politisches Projekt zu begründen. Ein Projekt, das die Kraft und die Konsequenzen einer politischen und gesellschaftlichen Alternative in sich trug, Demokratie ernst nahm und die sozialistische Hoffnung aus den Klammern parteikommunistischer Zwänge entließ. An diesem Punkt waren sich Robert Havemann, der für unseren politischen Neuansatz in den Achtzigerjahren stand, und Rudi Dutschke sehr ähnlich. Beide zogen noch nach ihrem Tod den Hass und die Ablehnung der wirklichen Doktrinäre und der spießigen Bürger auf sich. Renegatenschicksale.