DIE ABGEDREHTEN II : Große Zahnlücken
Dann ist da noch die hagere, faltenzerfurchte, graue, kleine Frau, die 24 Stunden am Tag mit zwei hageren, kleinen Hunden im Kiez umherirrt und der ich immer begegne, wenn ich mein Wohnhaus verlasse. Sie hatte irgendwann nur noch einen hageren, kleinen Hund und inzwischen gar keinen mehr, wird selbst immer hagerer und kleiner. Ich muss, immer wenn ich sie ohne ihre hageren und kleinen Hunde sehe, an den Film „Ein Fisch namens Wanda“ denken, wo eine alte Dame ihre kleinen Hündchen durch immer neue, wahnwitzige Anschläge verliert.
Furchterregend dagegen war ein völlig verwahrloster Jenseitiger, dem man schon von weitem ansah, dass er ganz für sich allein auf diesem Planeten kochte, und der mit der Geschwindigkeit einer gehbehinderten Schildkröte vor sich hin schlurfte. Eine Figur wie von Charles Dickens erfunden. Einmal hielt er abrupt vor dem Mittagstisch-Italiener im Kiez inne und belferte mit rauem Befehlston von draußen in den Tresenraum: „Kaffee!“ Das war das einzige Wort, dass ich ihn je sprechen hörte. Erschrocken fielen mir damals die Cannelloni von der Gabel. Jetzt ist er weg. Einfach nicht mehr da. Auch der hageren kleinen Frau begegne ich immer seltener. Der Kiez ist ärmer geworden.
Okay, es gibt noch die winzige, papierne Frau mit den großen Zahnlücken, die ich manchmal bedenklich wackelnd im Zeitungskiosk antreffe, wenn sie sich mit Flachmännern und Zigaretten eindeckt. Sie wohnt Parterre neben dem Kiosk, und sonntagmorgens zischt sie mir beim Verlassen des Ladens hinterher: „Kannste mir 50 Cent pumpen? Kriegste auch wieder.“ Ich gebe ihr dann ein bisschen mehr. Von 50 Cent kriegt man ja keinen Flachmann und schon gar keine Schachtel Zigaretten. „Kriegste echt wieder“, versichert sie mir durch die Zahnlücken hindurch. „Hat keine Eile“, sage ich. KLAUS BITTERMANN