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Archiv-Artikel

Die Fehlentwicklung der Kapitale

An der Greifswalder Straße hat sich ein Standort für „creative industries“ entwickelt. Dem Senat gelten die jungen Kreativen als Wirtschaftsfaktor. Doch Hauseigentümer TLG schickt ihnen die Kündigung

VON TINA VEIHELMANN

Die Greifswalder Straße 212 war einmal eine bekannte Adresse – für Textilindustrie in der DDR. Der VEB „Treffmodelle“ saß hier. An der Fassade prangt noch immer eine Reklame von damals – ein schicke Textildame. Sie leuchtet nachts rot, es könnte das neue Wahrzeichen sein. Darunter liegt heute der Magnetclub. In den Höfen dahinter haben bildende Künstler, Musiker, Grafikdesigner, Filmemacher, Architekten, Webdesigner und manches mehr Büros und Ateliers gemietet. Hier in Prenzlauer Berg findet sich die typische Berliner Mischung von künstlerischen, gestalterischen und kommunikativen Berufen, die zurzeit abwechselnd gehypt oder gescholten wird. Doch über die Debatten um „neue Arbeit“ hinaus haben die Mieter der Industriebauten an der Greifswalder 212 noch echtes Problem: die Vermieterin. Die TLG Treuhand Liegenschaftsgesellschaft hat allen eine Kündigung geschickt.

Die TLG will die Immobilie verkaufen. Im Moment sei das Haus nicht kostendeckend zu bewirtschaften, heißt es. 40 Prozent der 12.000 Quadratmeter Nutzfläche stehen leer. Dabei bewerben sich ständig Interessenten um die Räume, denn nur zehn Fußminuten vom Alexanderplatz sind sie vergleichsweise günstig. Vor allem aber sind auch kleine Büros zu haben, die sonst Mangelware sind.

In der einstigen Näherei gibt es aber auch mehrere Hallen, die so groß sind, dass man erst Trennwände einziehen müsste, wollte man sie vermieten. Durch einen sinnvollen Umbau des Hauses – dazu gehörte unter anderem auch eine neue Heizungsanlage – stiegen die Mieten laut TLG auf etwa 8 Euro pro Quadratmeter. Dies wiederum sei zu teuer. Deshalb kündigt man lieber allen Mietern und verkauft an einen privaten Investor.

Die ansässigen Künstler fragen, ob es keine andere Lösung gebe. Einige hatten sich eben erst eingemietet und bekamen schon im Folgemonat die Kündigen. Und warum heißt es erst: Ausbau zum Standort für Kulturwirtschaft, und jetzt: Vielen Dank für Ihr Engagement. Auf Wiedersehen. Auch die Vermietergesellschaft hat Fragen. „Weshalb“, stöhnt TLG-Sprecher Olaf Willuhn, „haben wir immer, wenn wir Kulturschaffenden kündigen, die Presse auf der Matte stehen? Ganz anders, als wenn normale Büros gekündigt werden?“ Die Antwort ist einfach: Die „Kulturschaffenden“ sind in Berlin Hoffnungsträger. Es gibt ein gefühltes Potenzial, das den Kreativen zugetraut wird – egal ob sie am Laptop sitzen oder immer immensere Ausstellungsflächen mit Kunst voll hängen.

Aus diesem Grund werden Gebiete aufgewertet, wenn die Künstler sie entdecken und Galerien eröffnen. Aus dem selben Grund hat die zitty zuletzte die Kreativen als „urbane Penner“ gescholten, weil sie ihr Versprechen nicht einlösen könnten, Berlin als „place to be“ zum Blühen zu bringen.

Dabei sind die „creative industries“ laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im Gegensatz zur klassischen Industrie noch immer im Wachstum begriffen. Trotz des Crashs der New Economy liegt ihre Wertschöpfung anteilig am Bruttosozialprodukt bei 11 Prozent, damit wird ebenso viel erwirtschaftet wie in der gesamten übrigen Produktion. Entsprechend hat sich der Berliner Senat zum Ziel gesetzt, die Kulturwirtschaft als eine der Zukunftsbranchen der Stadt zu entwickeln. „Kulturwirtschaftliche Zentren“ mit dem Branchenmix aus Webdesign, Softwareentwicklung, Film, Fotografie, Grafikdesign und bildender Kunst müssten gefördert werden, heißt es in einer vom Senat in Auftrag gegebenen Studie.

Dennoch liegt einiges im Argen. Die Immobilienverwalter sind sich offenbar nicht darüber im Klaren, ob man die Kreativen als seriöse Teilnehmer am Wirtschafts- und Kulturleben oder eher wie Hausbesetzer behandeln soll. So erzählen Mieter in der Greifswalder 212: „Uns war immer klar, dass man uns sofort vor die Tür setzen kann – und auch wird.“ Einige von ihnen hatten zuvor Räume im „Haus des Lehrers“. Dort hatte sich ein ähnlicher Nutzermix eingenistet – bis das Bürogebäude am Alexanderplatz saniert wurde. „Wir hatten dann der TLG vorgeschlagen, wir könnten doch geschlossen die ehemalige Näherei beziehen. Das ginge doch“, erzählt ein Nutzer der Greifswalder 212. Es ging nicht, aber manche Einzelmieter aus dem „Haus des Lehrers“ kamen hier unter – vorerst. Diese moderne Form des Nomadentums wäre unnötig, wenn die Mieter einen anderen Status bekämen als jenen, einen alten Industriestandort „trocken zu wohnen“, bis sich ein Investor findet.

Die TLG Treuhandliegenschaftsgesellschaft verwaltet viele ehemalige DDR-Industriestandorte, die sich als kulturwirtschaftliche Zentren eignen würden. Doch sie handelt nach der Geschäftsräson eines Immobilienentwicklers. Und da sie demnächst privatisiert wird, betont sie einmal mehr, dass sie wirtschaftlich handeln müsse. Doch für die behutsame Entwicklung eines Standortes fehlten der TLG schon beim „Orwohaus“ in Marzahn die Geduld und das Verständnis. Dort haben zahlreiche Bands Proberäume eingerichtet. Erst mit viel öffentlichem Druck konnten sie einer Kündigung entgehen.

In Prenzlauer Berg fehlt dieser Druck noch. So packen in der Greifswalder 212 dieser Tage völlig unterschiedliche Kulturschaffende ihre Kisten. „Das ist ein Betrieb, der hier umzieht“, sagt die Künstlerin Heike Klussmann, die international ausstellt. Nebenan räumen Grafikdesigner mit großen Auftraggebern ebenso ihre Schreibtische wie Maler, die selbstverständlich nebenbei arbeiten müssen, um ihre Kunst zu finanzieren.

„Zu den ‚creative industries‘ zählen sie alle gleichermaßen“, erklärt Berlins Atelierbeauftragter Florian Schöttle. Wollte man die profitabel Arbeitenden von den Unrentablen unterscheiden, bliebe man an der Oberfläche. Weil bildende Künstler selten gewinnbringend arbeiten, aber dennoch zur visuellen Entwicklung beitrügen, von der wiederum die gesamte gestaltende Branche profitiert.

Deshalb meint Schöttle, dass ein Ort wie die Greifswalder Straße 212 nur entsprechend der ökonomischen Potenz der Nutzer entwickelt werden kann. Er schlägt eine schrittweise Sanierung vor. Die Trennwände in den großen Hallen könne man einziehen, indem man Fördermittel und Eigenarbeit mit Mietfreiheit verrechnet. In Wedding, beim Modellprojekt „Christiania“, sei das in ähnlicher Form bereits umgesetzt worden, sagt Schöttle.

Die Treuhandliegenschaftsgesellschaft untersteht dem Bund. Somit könnte sie einen wirtschaftlichen und kulturpolitischen Auftrag wahrnehmen. Allerdings hat sie das bisher schon nicht getan. Und in naher Zukunft wird sie zum privaten Unternehmen, dann wird jeder öffentliche Auftrag obsolet.

Die Suche nach Standorten für Kulturwirtschaft bleibt damit den potenziellen Nutzern überlassen. Leer stehende Industriestandorte, Bürohäuser, Kindergärten oder Schulen wird es zukünftig immer häufiger geben. Auch solche, für die sich kein privater Investor mehr findet.