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Archiv-Artikel

Das Gehirn sucht nach dem Muster

CHOREOGRAFIE Eine Entschlüsselung ist nicht vorgesehen: Mit „Sider“ zeigte William Forsythe beim Festival Foreign Affairs ein spannendes Stück, bei dem die Zuschauer längst nicht alles erfahren, was die Tänzer bewegt

Wie durchkreuzt die eine Informations- ebene die andere und wie geht der Körper damit um?

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Unter den Choreografen ist William Forsythe ein Blockbuster. Nicht nur in Frankfurt und Dresden, wo seine Company beheimatet ist, sondern weltweit sind die Aufführungen seiner Stücke gefragt und ausverkauft. Und das, obwohl man ihn zugleich einen Philosophen und Hirnforscher nennen könnte, der seine Stücke als komplexe Versuchsanlagen baut. Das Konzept des Festivals Foreign Affairs, ihn gleich mit zwei Stücken und zwei Filminstallationen in den Kunstwerken nach Berlin einzuladen, fand denn auch großen Anklang.

In „Sider“, der zweiten Produktion, die im Haus der Berliner Festspiele lief, hantieren die 18 Tänzerinnen und Tänzer mit übermannshohen Papptafeln. Sie bilden damit bewegte Wände, die um bewegte Körper wandern – alles ist in diesen Bildern zur Software geworden, jederzeit veränderbar. Vorübergehend entstehen enge Gänge, durch die ein anderer kriecht, Schutzräume sieht man, manchmal verschwindet die ganze Company in einer fragilen Konstruktion.

In anderen, von Unruhe erfüllten Situationen werden Grenzen markiert, Abwehrstellungen gebaut, die Pappen als Schild genutzt oder auch, um andere Tänzer von der Bühnen zu kehren. Ein Tänzer ist dabei ohne Pappe, Fabrice Mazliah, der sich unermüdlich durch die Architekturen der anderen durchschlängelt und wuselt. Allein ihm mit den Augen zu folgen, hat etwas von der Beobachtung einer Verfolgungsjagd.

Doch weil fast jeder von den anderen mit seiner Pappe ein Innen und Außen mit sich trägt, entsteht die größte Spannung, wenn sie nicht an einer gemeinsamen Figur bauen, sondern jeder seine eigene Spur verfolgt, auf die anderen zwar reagierend, aber auch mit einer Karte im Kopf, der er folgen will. Tatsächlich gehören solche vorher festgelegten Karten der Wege für einen Tänzer zu den Instrumentarien, mit denen das Stück gebaut wurde. Ebenso aber für den Zuschauer nicht sichtbare Kopfhörer, die den Tänzern während der Aufführung ein Stück von Shakespeare zuspielen.

Forsythe, der alte Fuchs, hat sich das gewissermaßen als Denksportaufgabe ausgedacht: Wie durchkreuzt die eine Informationsebene die andere und wie geht der Körper damit um? Der Zuschauer sieht die Kopfhörer nicht, denn Teil der Kostüme sind eng anliegende Kappen, die auch das Gesicht bedecken und nur die Augen freilassen. Eine Maskierung, die ebenso vieldeutig ist, wie die buntgemusterten Stoffe der Hemden und Hosen, die zwischen opulentem Ornament und Tarnoptik changieren. Einerseits Straßenkämpfer, andererseits Theaterfigur, dafür sprechen auch zwei, drei umgelegte Shakespearekragen.

Diese Ebene möglicher Deutung wird noch verstärkt durch das Sprechen der Tänzer, meist monologisch, manchmal im Chor. Anfangs rätselt man über die Sprache – ist mein Englisch heut so schwach, dass ich nichts verstehe – bis man realisiert, es ist eine Fantasiesprache, die allein durch ihre Melodie Anmutungen transportiert. So hat man die Bausteine des Theaters vor sich, aber mit so etwas wie einer abstrakten Erzählung.

In den Kostümen, in den Kartonagen, im Gebrauch der Sprache, in den szenischen Bildern: Alle Ebenen haben etwas mit Verbergen und Enthüllen zu tun. Man sucht als Zuschauer nach einem Muster, die Dinge zu entschlüsseln. Doch genau das funktioniert nicht, sowie ein Muster erkenntlich scheint, verändert sich etwas. Wer eben noch Hauptfigur schien, sitzt plötzlich am Rand wie in ein privates Gespräch vertieft. Und, man ahnt es schon, Zitate von Forsythe bestätigen es im Programmheft: ein Code zur Entschlüsselung ist nicht vorgesehen.

„Es hat alles damit zu tun, wie das menschliche Hirn funktioniert: es ist immer auf Suche nach Mustern und Verbindungen, um so in der Lage zu sein, die Entfaltung eines Ereignisses vorherzusagen“, beschreibt Forsythe seinen Ansatz. „Die Aufmerksamkeit des Zuschauers lässt jedoch nach, sobald dies deutlich wird. Deshalb steche ich genau da immer wieder hinein.“

So gesehen ist dieser Kampf um die Aufmerksamkeit des Zuschauers eine groß angelegte Trickserei. Aber auch eine sehr verführerische Übung, sich selbst als Zuschauer besser kennen zu lernen. Hefte ich meine Blicke an einzelne und riskiere den Überblick zu verlieren? Macht es mich unglücklich, nicht die Kontrolle darüber zu haben, was gerade wichtig ist? Im Grunde stellt einen das vor zwei Jahren entstandene Stück so vor Aufgaben, mit der einen die Informationsgesellschaft ständig herausfordert.