: Ehrenritter der Archive
Sein Leben beschreibt er als einen grotesken Einfall Gottes. Sein Haus birgt eine Dokumentation der geschichtlichen Irrungen. Zu Besuch bei Walter Kempowski
VON FALKO HENNIG
Die Kaffeetafel ist im Seminarsaal gedeckt. Bis zu hundert Gäste könnten hier Platz finden und Lesungen oder Konzerten lauschen. Heute sind es nur zwei, die den Weg ins Dörfchen Nartum, gelegen zwischen Zeven und Rotenburg (Wümme) bei Bremen, gefunden haben. Walter Kempowski bittet zum Interview.
Der Autor hat durch emsige Bautätigkeit sein Haus in ein weltliches Kloster verwandelt. Ein langer Büchergang fasst über tausend Werke. Ein Flügel mit aufgeschlagenen Bach-Partituren, die wichtigsten Nachschlagewerke, Modellschiffe, die an die Vergangenheit der Familie als Rostocker Reeder erinnern, prägen den Raum. Nebenan der Literatenturm, das Tagebucharchiv, eine Gästewohnung, ein Hof mit Brunnen.
Der 76-jährige Hausherr ist milde, bei allem Humor etwas melancholisch und zerbrechlich. Noch ist sein Oeuvre nicht vollendet. Es fehlt sein Kommentar. Ein Schlussstein.
Im vergangenen Jahr ist mit „Abgesang“ der letzte Teil des kollektiven Tagebuchs „Das Echolot“ erschienen, vorher hat er in der „Deutschen Chronik“ die Geschichte seiner eigenen Familie in Romanen beschrieben – und damit eine Bestandsaufnahme des deutschen Bürgertums geschaffen. Aber noch fehle seine Meinungsäußerung und das seien seine Tagebücher. Diese Woche ist „Hamit“ erschienen, Heimat (Besprechung in diesem taz.mag, Seite VI).
Die Literatur von Kempowski fällt auf. Ihre ironische Distanz, der eigentümliche Humor. Dazu hat der Bricoleur eine spezielle Collagetechnik entwickelt, bei der er Gedichte, Sprüche, Parolen aus Werbung und Zeitung, sogar Briefmarkenaufdrucke in seine Prosa integriert. Er konzentriert sich auf kurze, pointiert zugespitzte Ausschnitte in einer Mischung aus Fakten und Fiktion, Autobiografie und Roman. Das Ergebnis ist vielfarbig, angereichert mit Redensarten und Witzen. Kempowskis schriftstellerische Disziplin hat ihn zu einem der bedeutendsten und produktivsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur gemacht.
Die Liste der prominenten Besucher im Haus Kreienhoop ist lang: Siegfried Lenz, Martin Walser, Lew Kopelew, Erich Fried, Ernst von Salomon, Ralph Giordano, Eva Demski, Benjamin von Stuckrad-Barre, Max Goldt … Aber auch Politiker waren hier zum Kaffee, Tee oder Bier, Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit Loki genauso wie der jüngst verstorbene und der neue Bundespräsident. Die Bundespräsidenten will Kempowski nicht bewerten, Rau wollte keinen Fisch, wogegen Köhler sich zweimal Erdbeertorte nachgenommen hat. Rau hat viele Witze erzählt. Köhler machte auf Kempowski einen freundlichen und fast gehemmten Eindruck. Mehr will er nicht verraten.
Welcher Politiker für ihn denn ein großer gewesen sei? Adenauer. Dem habe er persönlich einiges zu verdanken. Als Kempowski in der DDR im Gefängnis saß, sei Adenauer 1955 nach Moskau gereist, um diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen, in deren Folge Zivilhäftlinge entlassen wurden – unter anderem der 26-jährige Walter Kempowski.
Und heute? Das Ende der rot-grünen Regierung sieht Kempowski gelassen, Zeit wurde es doch! Die große Koalition scheint ihm angesichts der anstehenden Probleme die richtige Konstellation. Bei den Grünen verspürte er so etwas wie Fanatismus, und ihnen fehle die Bereitschaft, auch andere Meinungen zu akzeptieren. Andererseits lobt er ihre Verdienste in Bezug auf ökologische Fragen. Gefährlich sei es in der Politik immer nur dann, wenn man den Mund zu voll nehme. Man habe Schröder durchaus an seiner Aussage messen dürfen, er werde die Arbeitslosigkeit verringern.
Kaum ein Schriftsteller unserer Zeit verkörpert in Person und Werk mehr von der Kultur des Bürgertums als Walter Kempowski. Selbst seine Lebensbeschreibung, die Dirk Hempel verfasst hat, heißt nicht zu Unrecht „Eine bürgerliche Biographie“.
Mich interessieren die Abgründe von Kempowski. Gibt es unbürgerliche Züge, von denen niemand wissen darf? Die Antwort übertrifft die schlimmsten Erwartungen. Wenn er Bonbons esse, behauptet Kempowski, werfe er die Bonbonpapiere immer hinter die Bücher, was seine Frau angeblich mit den Worten beanstandet: „Man merkt doch, dass du von Polen abstammst.“
Ernster nehmen kann man wohl sein Kokettieren mit dem Dasein als Bohemien, der immer nach seinen eigenen Wünschen lebt. Ausdrücklich bekennt er sich zu bürgerlichen Werten wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung. Aber er gucke gerne Mädchen an, er neige dem weiblichen Geschlechte zu und könne sich das mit Schwulen überhaupt nicht vorstellen.
Hat er Disziplin als Lehrer erlernt? Kempowski erinnert an die so genannte Reformpädagogik in Deutschland, die in den Zwanziger-Jahren entstand und das Aufbrechen der preußischen Schuldisziplin zum Ziel hatte. Dieser Heiterkeit im Unterricht „vom Kinde aus“ fühle er sich verpflichtet und praktizierte sie auch bei seiner Arbeit an der Dorfschule. Mit leichtem Groll verweist er auf die 68er, die im Widerspruch zu ihrer antiautoritären Rhetorik eine strenge, preußische Schule mit genauesten Lehrplänen propagierten.
Kempowskis Tagebucharchiv ist jetzt in der Akademie der Künste gelagert. Das sei beruhigend. Schon das körperliche Betreuen eines so großen Archivs sei schwierig, ganz abgesehen von der geistigen Leistungskraft. Jeden Tag treffen neue Einsendungen ein, die gelesen und verzettelt werden müssen. Dem fühlt er sich nicht mehr gewachsen.
Die Donkosaken haben Walter Kempowski zum Ehrenrittmeister ernannt. Bis zum Erscheinen des „Echolots“ habe es keine Berichte von russischen Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen, Soldatinnen und Soldaten oder darüber, wie Bauern den Krieg erlebt haben, gegeben. Deshalb hat der Schriftsteller einen Band Anatoli Philippowitsch Platitsyn gewidmet, der ihm einen Großteil dieses Materials zur Verfügung gestellt hat. Als man in der Zentrale der Donkosaken davon erfuhr, bedankten sie sich bei Walter Kempowski, indem sie ihn zum Ehrenrittmeister mit Uniform ernannten. Obwohl er für die Uniform tausendfünfhundert Euro zahlen musste, ihm der Hut zu klein und die Jacke zu groß ist, freut sich Kempowski über die Anerkennung.
Das Echolot. Kritische Stimmen sehen darin eine bloße Materialsammlung. Kempowski hält dagegen, es sei wie eine Collage und sein Anteil dabei so wichtig wie der Schnitt im Film, der erst alles zu einem Ganzen zusammenfügt. So habe er die in dreißig Jahren gesammelten Materialien als Extrakt an die Gesellschaft zurückgegeben. Sonst hätte er auch alles verbrennen können.
Und jetzt soll sogar aus seinem Haus ein Museum werden? Da er sein ganzes Leben nicht ernst nehmen könne, ihm scheint es sogar wie ein grotesker Einfall des lieben Gottes, gehört für ihn die Monumentalisierung der eigenen Existenz in einem Museum dazu, erklärt der Autor. Am liebsten mit Gipsabgüssen seiner Totenmaske für einen Euro fünfzig. Man könne sich selbst überhaupt nur in Verzerrung ertragen.
„Das Haus ist auch ein Werk von mir, ich habe mir darüber genauso viele Gedanken gemacht wie über jeden meiner Romane.“ Man kann ihm nur zustimmen, das Haus ist spätestens seit dem Roman „Hundstage“ von 1988, der in der trügerischen Dichteridylle spielt, zu einem Teil der Literatur geworden. „Ein wenig Höhle, ein bisschen Gutshaus, Schule und Kloster“ ist es geworden, und der Dichter geht sogar so weit, zu vermuten, dass seine Bücher ohne einen Besuch in seinem Haus nicht vollständig verstanden werden können. So gehört ein Spaziergang zum Besuchsprogramm, wenn er mittlerweile auch oft seiner Frau die Tätigkeit des Touristenführerin überlässt, um sich zu schonen. Auch wenn es viele originelle Schriftstellerbehausungen gibt, Kempowskis Raum als Sinnbild eines literarischen Programms ist einzigartig.
Werke im Büchergang künden von Kempowskis Begeisterung für Architektur, die Katakomben Karl Friedrich Schinkels, die Paläste von Florenz …, doch besonders verpflichtet fühlt er sich dem abendländischen Klosterbau. Seine Sammlung umfasst einige tausend Kirchengrundrisse, vom Ulmer Münster bis zur Dorfkirche von Juditten im ostpreußischen Ermland. Sein Hörspiel „Führungen“ entstand aus diesem Interesse. Auch über „Die Backsteinriesen im deutschen Norden“ hat er einen Essay veröffentlicht: die Kirchen von Lübeck, Wismar, Rostock.
Zum Arbeiten bevorzugt Kempowski eine Klause unterm Dach, die ihn an seine Kindheit erinnert: „Wir bauten uns unter dem Esstisch mit Decken eine Höhle, beleuchteten sie mit einer Taschenlampe und kuschelten uns zusammen wie junge Hunde. Wir erschauerten vor eingebildeten Gefahren, die draußen unserer harrten.“
Haus Kreienhoop hat heute eine Fläche von siebenhundert Quadratmetern, das Grundstück umfasst mehr als dreitausend Quadratmeter. Der Garten wird durch die Allee aus Ebereschen geprägt, mit Glück kann man den Dichter darauf spazieren gehen sehen. Als Kempowskis Bruder vom Plan dieser Allee hörte, war seine Prognose, da führen sie beide dann später in ihren Rollstühlen auf und ab.
Sechzig Cent scheint Kempowski ein angemessener Eintritt für das Museum Haus Kreienhoop, aber das hänge davon ab, wie hoch er im Kurs der deutschen Literaturgeschichte stehe. Wenn die Literaten meinten, sein „Echolot“ wäre nur eine Sammlung und kein Kunstwerk, müsse er mit dem Preis heruntergehen: um zehn Cent.
FALKO HENNIG, Jahrgang 1969, fährt meist als Vortragsreisender durch Deutschland. Am 26. Februar spricht er um 16 Uhr über „männlich-weiblich“ im St. Oberholz in Berlin