Gekommen, um zu bleiben

KREUZBERG Es geht gegen hohe Mieten, gegen Abschiebungen, gegen Erdogan – rund um das Kottbusser Tor zeltet der Protest

■ Gebiet: Kreuzberg ist einer von zwei Ortsteilen von Friedrichshain-Kreuzberg, das es in dieser Konstellation seit 2001 durch die Fusion des Ostbezirks Friedrichshain und des Westbezirks Kreuzberg gibt. Mit zehn Quadratkilometern nimmt Kreuzberg auch genau die Hälfte der Fläche des Bezirks ein. Friedrichshain-Kreuzberg war der erste Berliner Bezirk mit einem grünen Bezirksbürgermeister.

■ Bevölkerung: In Kreuzberg leben fast 150.000 Menschen. Mit so vielen Einwohnern auf einer so kleinen Fläche ist es der Ortsteil mit der höchsten Bevölkerungsdichte in Berlin , mit 14.409 Einwohnern pro Quadratkilometer.

■ Migrationshintergrund: Von den 150.000 Einwohnern Kreuzbergs haben 50 Prozent einen Migrationshintergrund. Somit stellt Kreuzberg knapp 75 Prozent der Einwohner mit Migrationshintergrund in Friedrichshain-Kreuzberg. 29 Prozent der Einwohner Kreuzbergs haben keine deutsche Staatsbürgerschaft.

■ Mieten: In guten Lagen in Kreuzberg zahlt man fast 10 Euro für den Quadratmeter. Durchschnittlich liegt Kreuzberg aber bei 7 Euro pro Quadratmeter. (bz)

VON KONRAD LITSCHKO

Ganz ehrlich, sagt Hamza Chehade, für Politik habe er sich früher nicht interessiert. Seit es aber das Camp gebe, seit immer mehr Kumpels weggezogen seien, wegen der Mieten, da habe sich das geändert. Chehade kramt seinen Notizblock raus. „Guck mal.“ Er zeigt auf ein wackliges Diagramm, mit Kugelschreiber gezeichnet. Eine Kurve ist zu sehen, sie geht nach oben. „Die Mieten im sozialen Wohnungsbau.“ Chehade zeigt auf die Zahl fürs Jahr 2000: „3,97 Euro pro Quadratmeter, heute sind’s 5,54 Euro. Geht doch nicht.“

Der 21-jährige Lockenkopf ist am Kottbusser Tor aufgewachsen. Diesen Nachmittag sitzt er hier mit einem Dutzend Jugendlicher zwischen den Hochhausblöcken auf Bierbänken vor dem Protestpavillon von Kott & Co, gegenüber dem Café Südblock. Es ist Plenum der Kotti-Jugend. Es seien ja immer nur Ältere hier gewesen, sagt Chehade. Da habe er mit Mehmet im April die Kotti-Jugend gegründet. Eine Demo habe man schon organisiert. „Wir sprechen über alles, nicht nur Miete.“ Und wo, sagt Chehade, gebe es noch Orte, wo man sich treffen könne, ohne was zu bezahlen? „Siehste.“

Jetzt gibt es also schon eine eigene Protestjugend. Seit 14 Monaten demonstrieren Anwohner am Kottbusser Tor mit ihrem Protestcamp gegen steigende Mieten. Sie sind nicht mehr allein: Gleich auf der anderen Straßenseite demonstrieren seit vier Wochen Deutschtürken im Taksim-Zelt gegen die türkische Regierung. Und um die Ecke, am Oranienplatz, haben seit Oktober streikende Flüchtlinge gleich ein Zeltdorf errichtet.

Drei Protestcamps in unmittelbarer Nachbarschaft, ein Widerstands-Delta. „Sowas gibt’s nur in Kreuzberg“, sagt Hamza Chehade. „So was Verrücktes, aber Sinnvolles.“

Natürlich ist es kein Zufall, dass das in Kreuzberg geschieht. Der Bezirk duldet alle drei Camps, vorerst unbefristet. Weil man die politischen Anliegen teile, sagt der Bürgermeister, der Grüne Franz Schulz. Er selbst schaut ab und an bei den Zelten vorbei. Für seinen Bezirk gilt es schließlich einen Ruf zu verteidigen: Kreuzberg, Nährboden des Alternativen und der Toleranz. Auch in den Zelten betreibt man Traditionspflege: Kreuzberg als Widerstandsnest. Häuserkampf, Geburtsort der 1.-Mai-Randale.

Anderswo vertrieben

Man habe es ja woanders probiert, am Brandenburger Tor, sagt Turgay Ulu vom Flüchtlingscamp, ein Enddreißiger mit kleiner Brille und verschmitztem Gesicht, ein türkischer Kommunist. Erst verbot der Bezirk Mitte dort ihr Zelt, dann beschlagnahmte die Polizei Isomatten und Schlafsäcke. In Kreuzberg wurde den Flüchtlingen nach der Platzbesetzung ein Sanitärcontainer gestellt und eine leere Schule als Winterquartier.

Sechs Großzelte stehen nun auf dem Oranienplatz, fast 100 Flüchtlinge leben dort. Keine Abschiebungen mehr, fordern sie, keine Sammellager, irgendwo außerhalb der Städte.

Bleiben wolle man, bis diese Forderungen erfüllt werden. Man werde bleiben, heißt es auch Pavillon von Kotti & Co. Bis die Mieten wieder fallen, bei Sozialwohnungen auf 4 Euro den Quadratmeter. Nachgegeben wird nicht mehr. Es wird geblieben.

Auch am Taksim-Zelt ist noch kein Protestende in Sicht. Solange der Gezi-Widerstand in der Türkei lebt, bleibe man, sagt Safak. Seinen Nachnamen lässt der 27-jährige Deutschtürke ungenannt. Mit dem Zelt habe man eine „zentrale Anlaufstelle“, mitten in der Stadt, freut sich Safak. Man könne den Protest nun dauerhaft sichtbar machen. Nachmittags werden vor dem Zelt Neuigkeiten vom Protest gegen den türkischen Premier Erdogan ausgetauscht, abends wird demonstriert, bis nachts verfolgt man Live-Übertragungen der Polizeieinsätze in der Türkei.

Plötzlich gibt es Ärger mit den Junkies, die das Kottbusser Tor noch viel länger als Treffort haben. Irgendeiner hat am Stromgenerator des Taksim-Zelts hantiert, es gibt Geschrei. Nur wenig später ist alles wieder ruhig, der Generator brummt wieder.

„Die sind hier fehl am Platz, hier ist die Szene“, grummelt einer der Junkies, lange Haare, Bier in der Hand. „Warum gehn die nicht vor die Botschaft?“ Auch der Obsthändler nahe bei hat nicht viel für den Protest übrig. „Die haben alle nichts zu tun.“

Auch am Oranienplatz gab es Ärger. Zu laut und vermüllt sei das Flüchtlingscamp, schimpften Anwohner, irgendwann sei es auch mal gut. Der Streit gipfelte in einem Messerangriff auf einen Flüchtling, es folgten Tumulte und ein runder Tisch. Jetzt sitzen acht junge Deutschtürken auf einer Bank neben dem Camp, gegelte Haare, Muckis. „Klar gab’s Stress“, sagt einer. „Die dürfen ja nichts machen, nicht arbeiten.“ Und nur Rumhocken, sagt der Jungmann, da komme immer Ärger bei raus. Kenne er von sich. „Die Regierung muss sich mal endlich um die kümmern.“ Ein anderer nickt. „Im Grunde sind wir für die. Wir sind ja auch auf der Straße aufgewachsen.“

Am Ende also doch: Kreuzberger Solidarität. Beim Taksim-Zelt bringen Betreiber umliegender Bistros Suppen vorbei, der Strom kommt vom Supermarkt oder der Arztpraxis nebenan. Dem Kotti-&-Co-Camp dient das Café Südblock als Herberge. In ein paar Wochen will die Kotti-Jugend mit den Flüchtlingen und Türkiyemspor ein Fußballturnier veranstalten. Und am Oranienplatz übernehmen Studenten Schichten im „Infozelt“, helfen Anwohner in der Küche, geben Deutschunterricht. Eine ganze Stellwand ist bekritzelt: Treffen der „legal group“, „open plenum“, „flyer and poster making“.

Hier bricht ein Kreuzberger Klischee: das der chaotischen Anarchos. In den Camps herrscht organisierte Disziplin: Zeltkomitee, Plenum, Demo-Orga. Auch an diesem Nachmittag hämmern Jugendliche am Kotti-&-Co-Pavillon, aus dem Protestzelt ist eine Holzhütte mit Glasfenstern und Vordach geworden. „Und jetzt kommt noch eine Veranda“, sagt Hamza Chehade. Die Protestler meinen es ernst.

Der Zelt-Protest weltweit

Erst durch die Hütte, sagt Chehade, habe der Senat reagiert, habe 35.000 Sozialwohnungen einen Mietendeckel verpasst. Erst durch das Taksim-Zelt, sagt Safak, kämen alle ins Gespräch. „Auch Brasilianer und Griechen waren schon hier.“ Erst durch das Camp, sagt Turgay Ulu, seien Flüchtlinge wieder sichtbar, könnten im Camp frei leben.

Überall in der Welt werde gerade mit Zelten demonstriert, schwärmt Ulu. Türkei, Brasilien, Ägypten. „Der Kapitalismus hat ein Problem. Wir müssen alternativ leben.“ Das wieder ist Kreuzberg: das ganz große Einordnen des eigenen Tuns. Der Wunsch, irgendwie auch Teil der Weltgeschichte zu sein. Nicht zufällig sind es gerade die Weltvernetzten, die Migranten, die in allen dreien Camps so aktiv sind. Selbst wenn mal Forderungen erfüllt seien, sagt Chehade, müsse das Camp bleiben. „Als Denkmal und zum Chillen.“

Im Taksim-Zelt greift am Abend ein Mann im weißen Hemd zum Mikrofon, berichtet von der Lage auf dem Taksim-Platz: wieder Wasserwerfer, wieder Festnahmen. Auf den Bänken verstummen die eben noch regen Gespräche. Auch die Junkies von der anderen Straßenseite schauen rüber, jetzt fast still. Der Mythos Kreuzberg, er steht.