: Vertraute Töne für Migranten
Hilfe bei existenziellen Sorgen und Tipps für den Alltag: Bei der russischsprachigen Telefonseelsorge „Telefon Dowerija“ kümmern sich 40 ehrenamtliche Mitarbeiter um die Probleme von Einwanderern
von Cigdem Akyol und Annette Bräunlein
Am schlimmsten ist es im Winter. In der kalten Jahreszeit spüren die Menschen ihre Einsamkeit noch stärker. Das Telefon klingelt dann wesentlich häufiger als die üblichen rund 20 Mal am Tag im Rest des Jahres, sagt Mark Naga. Er hört sich den Kummer der Anrufer an und versucht, ihn zu lindern. Naga arbeitet ehrenamtlich bei der russischen Telefonseelsorge in Berlin, mehrmals die Woche. „Telefon Dowerija“: der Name soll für sich sprechen. „Dowerija“ heißt übersetzt Vertrauen – das „Vertrauenstelefon“. Etwa 180.000 russischsprachige Einwanderer leben in Berlin. Für sie und ihre Probleme ist die Hotline gedacht.
Viele Sorgen der Anrufer kennt Mark Naga aus eigener Erfahrung. Vor zehn Jahren kam der Ingenieur aus der Ukraine nach Deutschland. Naga weiß, wie es ist, in einem fremdem Land neu anzufangen. Einsamkeit und Familienprobleme sind die häufigsten Sorgen der Ratsuchenden, danach folgen Heimweh und Arbeitslosigkeit. „Die Migration spielt eine große Rolle“, erklärt der 50-Jährige. „Die Leute müssen sich ein ganz neues Leben aufbauen.“
Die Seelsorge berät auch, an wen oder an welche Behörde die Anrufer sich für die Lösung ihrer Probleme wenden können. „Wir dienen bisweilen als Auskunft für die unterschiedlichsten Anliegen“, sagt Mark Naga. Diese reichen von der Suche nach russischsprachigen Anwälten bis hin zu Tipps für die Freizeitgestaltung. Damit die Anrufer sich besser in Deutschland integrieren, achten die Mitarbeiter darauf, sie auch an deutsche Ansprechpartner zu vermitteln.
Die meisten der 40 Mitarbeiter bei Telefon Dowerija kommen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und beteiligen sich ehrenamtlich. Darunter sind Lehrer und Ärzte, die nach der Übersiedlung nicht in ihrem Beruf weiterarbeiten können. Auch ein Orchesterdirigent hört sich die Sorgen der Anrufer an. Oft engagieren sie sich, um ihrem tristen Arbeitslosenalltag zu entkommen.
Für die Mitarbeiter gilt absolute Schweigepflicht, kein Ratsuchender wird nach seinem Namen gefragt. Genau diese Anonymität gibt den Anrufern Vertrauen in die andere Person am Ende der Leitung. Und dass die Sprachbarriere wegfällt, macht es vielen einfacher, sich auszusprechen.
Die Telefonseelsorger müssen belastbar sein. Geduldig hören sich die Mitarbeiter Sorgen und Wünsche der Fremden an. Manchmal sprechen sie auch mit Verzweifelten, die sich das Leben nehmen wollen. „Diese Momente sind heikel, aber wir lassen nichts unversucht“, beschreibt Uwe Müller, Leiter der Kirchlichen Telefonseelsorge in Berlin, solche Gesprächssituationen.
1998 kamen russische Psychologiestudenten auf den Sozialpädagogen Müller zu und schlugen ihm vor, eine russischsprachigen Seelsorge zu gründen. Ein Jahr später wurde der erste Anruf entgegengenommen. Die Leitung ist rund um die Uhr besetzt, jeden Tag.
Seit fast drei Jahren ist Annette Schlesier bei Telefon Dowerija. Die Deutsche hat vier Jahre in Moskau studiert. Sie ist stolz darauf, dass viele Anrufer nicht merken, dass Russisch nicht ihre Muttersprache ist. Wenn sie es erzählt, freuen sich die Anrufer, dass eine Deutsche sich für ihre Probleme interessiert und sie aus einem nichtrussischen Blickwinkel berät, berichtet die 36-Jährige. Ihr schönstes Erlebnis: Wie üblich klingelte das Telefon, am anderen Ende war jedoch kein Hilferuf. Aus dem Hörer kam der Dank einer bekannten Stimme. Annette Schlesier hatte einfach durch ihr Zuhören einer Frau neuen Lebensmut gegeben. Als sie davon spricht, lächelt sie und richtet den Blick aus dem Fenster. Es ist trübe, aber der Frühling kommt bald.
„Telefon Dowerija“ ist rund um die Uhr unter (0 30) 44 01-06 06 zu erreichen