Dem Leben sei Dank

Wie man einen Roman in einer halben Stunde auf dem Fahrrad schreibt oder mit seinem vierten Buch plötzlich zu einem Debütanten gemacht wird: der Saisonauftakt im Literarischen Colloquium Berlin

VON GERRIT BARTELS

Jan Faktor ist ein offen-freimütiger Mensch, einer, der auch sein Publikum zum Lachen zu bringen weiß. Schornstein, ja, Schornstein, so hätten nun mal seine Mutter und eben sein Großvater geheißen, und da liege es doch nahe, die Hauptfigur seines Romans und überhaupt seinen Roman so zu benennen, zumal Schornstein auch nicht wenig von ihm selbst habe. Jan Faktor sitzt an diesem Freitagabend auf der kleinen Bühne des LCB am Berliner Wannsee, beantwortet Fragen der beiden Moderatoren Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert und liest schließlich auch aus „Schornstein“, seinem dieser Tage erschienenen Debütroman. Der Rahmen für Faktors Buchvorstellung ist der traditionelle Frühjahrsauftakt des LCB, sechs Berliner Autoren und Autorinnen lesen aus ihren Debüts oder neuen Büchern und sprechen auch darüber, neben Jan Faktor sind es dieses Mal Rabea Edel, Hendrik Jackson, Sebastian Orlac, Jakob Hein und Elke Schmitter.

Es ist dies ein Termin im Literaturkalender, der mehrere Vorzüge hat. Man kann sich einen kleinen Überblick über den aktuellen Stand der deutschsprachigen Literatur verschaffen, neuerdings lässt sich der Saisonauftakt gar als informative Ergänzung zur Nominierungsliste für den Preis der Leipziger Buchmesse verstehen. Man bekommt also sechs Titel in knappster Form vorgestellt, wobei Faktor, Hein und Schmitter an diesem Abend den nachhaltigsten Eindruck hinterließen, und man kann sich daran erfreuen, was für Strategien die Autoren und Autorinnen haben, um die immer gleichen Fragen nach den autobiografischen Bezügen ihrer Bücher abzuwehren, dazu Fragen wie „Wie sind Sie ausgerechnet auf diese Figur gekommen?“ oder „Wie fühlt sich das an, in so eine Figur zu schlüpfen?“.

Jan Faktor jedenfalls ist entspannt. Auch als er damit konfrontiert wird, dass es vielleicht etwas merkwürdig sei, als inzwischen Mittefünfzigjähriger mit einem Prosadebüt zu kommen, ist das für ihn kein Problem. Faktor war lange Zeit Mitglied der experimentellen Lyrikszene Ostberlins, da habe er es, so Faktor, schlichtweg aus programmatischen Gründen abgelehnt, Prosa zu schreiben. Nachdem sich aber mehr und mehr Geschichten angestaut hätten, habe er den Roman praktisch während einer Fahrradfahrt heruntergeschrieben, in gerade mal einer halben Stunde, aus der in realiter gute anderthalb Jahre Schreibzeit geworden seien. „Schornstein“, das zeigt sich nach den ersten Leseproben, einer saftigen Trinkerszene und einer präzisen Blutentnahme-Beschreibung, ist ein drastischer, auch ekliger Roman, einer, der voll aus dem Leben schöpft, von einem chronisch kranken Menschen im Gewirr der Wissenschafts- und Gesundheitsbürokratie erzählt und dabei gesteigertes Augenmerk auf die Gescheiterten unserer Gesellschaft legt.

Faktors Roman hat nicht wenig polarisierenden Charakter. Das Manuskript wurde von diversen Verlagen abgelehnt, doch dann bekam Jan Faktor dafür letztes Jahr den Alfred-Döblin-Preis. Und „Schornstein“ stand dann in diesem Frühjahr auf den Rezensionslisten vieler taz-Autoren, wurde von einer Autorin aber zurückgegeben mit den Worten: „Das ist mir schon nach fünfzig Seiten völlig zuwider, ich kann das nicht weiterlesen. Das ist keine Literatur.“ Besser kann ein Buch nicht in ein Frühjahr kommen, mit so viel Anziehungs- und Abstoßungskräften.

Anders als der heiter-offene Faktor präsentiert sich Jakob Hein im LCB. Er ist ungleich widerborstiger und ironisch – was kein Wunder ist, wird er doch vorgestellt als ein Schriftsteller, der nach drei autobiografischen Büchern mit „Herr Jensen steigt aus“ erstmals ein offen nichtautobiografisches vorlege, also auch eine Art Debüt. „Dass ich das noch erleben darf“, reagiert Hein indigniert. Er erzählt dann aber doch, wie er Herr Jensen kennen gelernt habe, als er mal wieder voller Wut den Fernseher aus dem Fenster schmeißen wollte, das aber seiner Ehefrau nicht antun konnte, sei sie doch finanziell zur Hälfte am Fernseher beteiligt (und nicht nur daran). Ein Stoff also, den das Leben schreibt (her mit dem Autobiografischen!), ein Stoff über einen Briefausträger, dem gekündigt wird und der plötzlich scharfsinnig Gebrauch von seiner neuen Freiheit macht, all das von Hein auf schmalem Raum in voller Größe und formvollendet aufbereitet.

Während Hein, wie es ihm manche Rezensenten attestieren, von Buch zu Buch besser wird und sich ein größeres Publikum erschreibt, hat Elke Schmitter das umgekehrte Problem: Ihr erster Roman „Frau Sartoris“, erschienen 2000, war ein Erfolg bei Kritik und Publikum, verkaufte sich im sechsstelligen Bereich, und da gilt es nun, mit den nach so einem Erfolg bekanntlich schwierigen zweiten und dritten Folgeromanen das Publikum zu halten. Möglicherweise nicht von ungefähr knüpft ihr neuer Roman, „Veras Tochter“, an „Frau Sartoris“ an – die Hauptfigur fühlt sich bei der Lektüre von „Frau Sartoris“ an ihre Mutter erinnert, an Vera, die in „Frau Sartoris“ aber eben Margarete heißt. Ja, nicht ganz einfach diese literarische Konstruktion, eine Vermengung von Leben, Liebe und Literatur, die Schmitter an diesem Abend befürchten lässt, ihre Kollegen (Schmitter ist Literaturkritikerin beim Spiegel) könnten ihr „Prätentiösität“ vorwerfen.

Was aber alles nichts hilft: Auf die obligate Frage nach dem Vorgehen und den Wechselwirkungen zwischen Autorin und Figur antwortet Schmitter, dass der Prozess des Schreibens und der Figurenentwicklung immer auch unbegriffene, unbewusste, nie restlos zu kontrollierende Vorgänge habe.