: Bärtige mit den ewig satten Tönen
AMBIENT POP The Album Leaf spielten am Donnerstag im Lido vor einem duldsamen Publikum und klangen so perfekt, dass es wehtat
Lang gezogene Töne, Insektenlampen, die mal rot, mal blau, mal grün strahlen. Fünf bärtige Männer, die den Wirren der Postpubertät längst entkommen sind, vor einer Videoprojektion, die Striche, Fäden, Landschaften und viel, viel Stadt zeigen.
Im Hintergrund sitzt ein verhuschtes Streichquartett und verpasst keinen einzigen Einsatz. Das waren The Album Leaf im Lido, erstaunlicherweise ausverkauft, am Donnerstagabend.
The Album Leaf kommen aus San Diego, Kalifornien und sind wohl nicht denkbar ohne Jimmy LaValle, den Kopf, Sänger und Organisten der Band, der vorher für eine Menge Postrock gesorgt hat, u. a. bei Tristeza, und ein bisschen so ausschaut wie Adrien Brody in „Der Pianist“, kurz bevor die Rote Armee eintrifft.
Im Lido präsentierte sich die Band jedoch als Band. Und LaValle fügte sich ins Geschehen, auch wenn sein Fender Rhodes E-Piano mit den bekannt verhallten, müden, moody Tönen stets präsent blieb. Aber Violinist Matthew Resovich, wie LaValle auch bei The Black Heart Procession tätig, entpuppte sich als der bessere Sänger. Gram LeBron füllte mit seinem Bass den Raum, wobei er meistens nur volle Töne spielte, pro Takt einen. Timothy Reece schließlich trug die dunkelste Sonnenbrille seit Andrew Eldrich und spielte ausgezeichnet Schlagzeug, immer auf den Punkt, nie vorhersehbar, es sei denn, man schließt von den Platten auf das Konzert.
Musik für den Fahrstuhl
Das ist vielleicht eines der Probleme dieser Musik. The Album Leaf machen Postrock ohne Rock, Elektronika im Bandformat, im Wesentlichen also Instrumentalmusik mit gelegentlichem Vokaleinsatz, die auf Atmosphäre (Ambient) und Stimmung setzt. Der Einsatz der Krispelbeats erinnert natürlich an The Notwist, ansonsten fallen einem Bands und Acts ein, deren große Zeit um die Millenniumswende gewesen sein muss: Plaid etwa. Auch Air könnte man nennen, die diese Art von Musik radiotauglich gemacht haben. Dunkelblaue Sounds, die ohne Visuals undenkbar sind; Fahrstuhlmusik für die extra langen Fahrstuhlfahrten; Musik für die Momente des Lebens, in denen man sich von Gefühlen treiben lassen und nicht denken möchte.
Das Problem ist, dass The Album Leaf live ziemlich perfekt klingen. Der tendenziell ohnehin eher überraschungsarmen Musik tut das nicht gut – man ist so schon froh über jeden Harmoniewechsel, jeden Break, jeden Rhythmuswechsel; allerdings ist es nicht so, dass The Album Leaf da anderen Langweilern nicht einiges voraushätten. Aber gut wäre es, wenn LeBron mal ein paar Dubs spielen könnte, wenn Drew Andrews an der Gitarre mal Akkorde spielen würde, statt nur vor sich hin zu zupfen – von Ausflügen in Powerakkorde wollen wir gar nicht erst träumen. Und wie schön wäre es, wenn LaValle mal irgendeiner Art von Soundfetisch nachgehen würde, und nicht nur den ewig satten Tönen.
Bärtige, die Musiklehrer sein könnten oder Büroangestellte, die sich nach Feierabend in der ungenutzten Squashhalle zum Musikmachen treffen, so wirken The Album Leaf. Natürlich konnte ihre Musik sich trotzdem entfalten – und fing das duldsame Publikum auch gut ein. Das kleine Wörtchen „schön“ schwang mit den allumfassenden Basstönen durch die Halle. Nicht weit davon entfernt das Wörtchen „warm“. Schön und warm, aber Moll. Winterausgangsmusik.
RENÉ HAMANN