: „Wie zur Zeit der Kulturrevolution“
TIBET-KONFLIKT Der Sondergesandte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, zu den jüngsten Entwicklungen in Tibet zwei Jahre nach den Unruhen und zu den ergebnislosen Gesprächen mit der chinesischen Regierung
■ wurde 1952 in Tibet geboren. Er ist Vertreter des Dalai Lama in Genf und war dessen Sekretär im indischen Exil. Seit 2002 nahm der Sondergesandte an allen Dialogen mit Peking teil.
taz: Herr Kelsang Gyaltsen, wie ist die Lage in Tibet zwei Jahre nach den schweren Unruhen vom 14. März 2008, als es 21 Tote laut China und 200 laut tibetischer Exilregierung gab?
Kelsang Gyaltsen: Seitdem ist die Situation sehr bedrückend. In allen Gegenden Tibets sind Sicherheitskräfte massiv präsent, selbst in entlegenen Dörfern. China führt eine sogenannte patriotische Erziehungskampagne durch, eine politische Indoktrination, bei der Tibeter den Dalai Lama denunzieren und der KP ihre Loyalität erklären müssen. Die Bewegungsfreiheit der Tibeter ist beschränkt. Täglich hören wir von neuen Verhaftungen und kleinen Protesten. Gegen Tibeter, die bei friedlichen Protesten festgenommen wurden, werden schwere Strafen verhängt. Tibeter berichten von einer Atmosphäre der Einschüchterung wie zur Zeit der Kulturrevolution.
Beim Aufruhr vor zwei Jahren gab es tödliche antichinesische Gewalt. Sollte Peking keine Sicherheitskräfte schicken?
Es gab in Lhasa in der Tat Brandstiftungen mit Toten. Aber nach unseren Informationen waren die Proteste überwiegend friedlich, es gab ja hunderte davon, und es wurden mehr als 200 Tibeter getötet. Peking zählt nur Chinesen, die bedauerlicherweise zu Tode kamen, aber keine anderen. Die Proteste 2008 begannen am Jahrestag des Aufstands von 1959 am 10. März, gingen am 12., 13. und 14. weiter. Weil die Sicherheitskräfte von vornherein massiv gegen Mönche vorgingen, führte dies in Lhasa zu dieser unglücklichen Gewalt.
Ende Januar nahmen Sie an der neunten Gesprächsrunde zwischen Chinas Regierung und Vertretern des Dalai Lama teil. Wie ist Ihr Eindruck davon?
Die chinesische Seite hat nach wie vor eine sehr unnachgiebige Haltung. Wir konnten der Regierung wieder eine Note übergeben. 2008 hatten wir ein Memorandum über eine echte Autonomie für das tibetische Volk und jetzt eine Note dazu übergeben. Beide lassen keinen Zweifel, dass der Dalai Lama und die Exilregierung eine Lösung für die tibetische Frage im Rahmen der Volksrepublik anstreben. Leider beschuldigt Peking den Dalai Lama, Tibets Unabhängigkeit anzustreben. Deshalb bleibt uns nur der Appell an die internationale Gemeinschaft: Macht euren chinesischen Gesprächspartnern klar, dass die Vorwürfe gegen den Dalai Lama unglaubwürdig sind.
Der Dalai Lama hat jetzt zum Jahrestag des Tibet-Aufstands 1959 den Uiguren „in Ostturkestan“ seine Solidarität ausgedrückt. Stützt das nicht Pekings Position, er wolle Chinas Einheit hintertreiben?
Solidarität ist für den Dalai Lama selbstverständlich. Sein mittlerer Weg – keine Unabhängigkeit, aber echte Autonomie im Rahmen der Volksrepublik– könnte auch für Ostturkestan oder die Innere Mongolei den Weg ebnen.
Wollte Peking mit dem Januartermin der Dialogrunde das Februartreffen von US-Präsident Barack Obama mit dem Dalai Lama verhindern?
Es ist müßig, über Pekings Beweggründe zu spekulieren, die niemand mit Sicherheit kennt. Wir beklagen schon lange den Mangel an Transparenz, was Gespräche so erschwert. Trotzdem haben beide Seiten jetzt den Wunsch geäußert, die Gespräche fortzusetzen. Wir haben unterschiedliche Ansichten, worüber wir sprechen wollen. Für uns Tibeter sind die Grundrechte, das Wohlergehen und die Zukunft von sechs Millionen Tibetern in Tibet das Thema. China will nur über die Zukunft des Dalai Lama und andere Exiltibeter sprechen.
Peking will Tibet jetzt verstärkt wirtschaftlich entwickeln. Was halten Sie davon?
Sollte die Regierung die Ankündigungen einer Konferenz wirklich umsetzen, können wir das nur begrüßen, etwa die Verbesserung des Lebensstandards, der Ausbildung und der Gesundheit der ländlichen Bevölkerung. Das hat der Dalai Lama auch gefordert. Gut ist, dass an dieser Konferenz in China Offizielle aus allen tibetischen Gebieten teilnahmen und nicht wie früher nur aus der sogenannten Autonomen Region. Für alle tibetischen Gebiete soll die gleiche Politik gelten. Es ist eine unserer Forderungen, dass alle unter eine einheitliche Verwaltung kommen.
INTERVIEW: SVEN HANSEN