berliner szenen Brücken über der Spree

Die S-Bahn-Taucherin

Sie hat eine Wollmütze auf dem Kopf, einen Schal um den Hals, und außerdem kaut sie auf ihren Fingernägeln. Ich sitze ihr genau gegenüber. Als sich am Ostkreuz die Türen schließen und sich die Bahn Richtung Treptow in Bewegung setzt, greift sie plötzlich in ihre Tasche, holt eine Taucherbrille und einen Schnorchel heraus und setzt beides mit geübten Griffen auf. Ein paar Leute sehen zu ihr hinüber, doch keiner sagt etwas. Ich sage auch nichts. Dafür bin ich viel zu verdattert. Holt sie vielleicht gleich noch eine Harpune aus der Tasche und kidnappt die S-Bahn?

Ich sehe sie an. Das Sichtglas der Taucherbrille ist beschlagen, und sie atmet hörbar durch den Schnorchel. Ihre Hände umklammern ihre Tasche. Sie scheint sich nicht gerade wohl zu fühlen. Nein, keine Kidnapperin, entscheide ich.

Wir fahren jetzt über die Spree. Vor uns ragen die Treptowers in den Himmel, und daneben stehen die drei Jesus-Doubles auf dem Wasser und umarmen sich. Ich kann nichts Beunruhigendes entdecken. Als wir in den S-Bahnhof Treptower Park einfahren, setzt sie die Taucherbrille und den Schnorchel wieder ab. Sie ist kreidebleich. „Sehen Sie mich nicht so an“, sagt sie. „Das wäre nicht der erste Zug gewesen, der ins Wasser stürzt.“

„Sie hatten Angst zu ertrinken?“, frage ich ungläubig. „Natürlich“, sagt sie. „Hören Sie denn gar keine Nachrichten?“ Und damit ist unser Gespräch beendet.

Zwei Stationen weiter muss ich aussteigen. Auf dem Weg zu den Treppen sehe ich der S-Bahn nach, wie sie verschwindet. Und da fällt mir ein, dass sie gleich über den Britzer Zweigkanal fahren wird. Ich bleibe stehen und kratze mich am Kopf. Und dann? Wie viele Brücken gibt es eigentlich auf dieser Strecke?

DANIEL KLAUS