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Archiv-Artikel

Null Toleranz für Langeweile

KINDEROPER Die Wiener Taschenoper gastierte im Radialsystem mit der „Gänsemagd“ von Iris ter Schiphorst nach den Brüdern Grimm

Kinder sind kein einfaches Publikum. Sie tendieren dazu, überkritisch und schnell gelangweilt zu sein, und wollen nicht gebildet, sondern unterhalten werden. Nie würden sie höflich über einen schlechten Gag lachen, und wenn einer auf der Bühne unverständlich nuschelt, wird ihm das mit nervöser Unruhe heimgezahlt. Andererseits sind Kinder das erwachsene Publikum von morgen, weshalb man allerorten entdeckt hat, dass es klug ist, sich um sie zu bemühen. Alle drei Berliner Opernhäuser betreiben eigene Kindersparten. Noch immer sind Produktionen rar, bei denen die Musik eigens für Kinder komponiert wurde, doch allmählich scheint die Kinderoper als eigenes Genre ernst genommen zu werden.

Auch das oft innovative Radialsystem ist nun in dieses Feld eingestiegen. Für ein verlängertes Wochenende hat man sich „Die Gänsemagd“ ins Haus geholt, ein Gastspiel der Wiener Taschenoper. Die Taschenoper macht sich schon seit ein paar Jahren um die Weiterentwicklung der Kinderoper verdient. Statt auf tradiertes Material zurückzugreifen, werden gezielt Kompositionsaufträge vergeben. Dabei sind zwei Bedingungen einzuhalten: Das Stück muss ohne Dirigent aufzuführen sein, und die Zahl aller Mitwirkenden darf zehn nicht überschreiten.

Im ausverkauften Radialsystem ist hoch oben im Bühnenhintergrund eine Plattform für die vier MusikerInnen aufgebaut. Das Bühnenbild selbst, so praktisch wie schön, ist als aufklappbares Buch gestaltet. Die DarstellerInnen bedienen es selbst, wozu jedes Mal ein Gang über die halbe Bühnenbreite notwendig wird – nur einer der vielen kleinen szenischen Scherze. Es wird überhaupt oft gelacht, Kinder wie Erwachsene haben ihren Spaß am Witz von Libretto (Helga Utz), Musik (Iris ter Schiphorst) und Inszenierung (Jewgeni Sitochin). Dass sich ausgerechnet aus der „Gänsemagd“, einem der poetischsten, aber auch traurigsten Grimm-Märchen („Oh, du mein Fallada, da du hangest?“), so viele humoristische Funken schlagen lassen, ist ein echtes Opern-Aha-Erlebnis.

Der alte König, dem zu verdanken ist, dass die arme Gänsemagd – eigentlich Prinzessin – in ihrer wahren Identität erkannt wird, wird von Ulfried Staber als gutmütiger, leicht seniler Trottel gegeben. Er ist der einzige männliche Sänger auf der Bühne, denn der Prinz (Sönke Schnitzer, auch als Pferd Fallada unterwegs) kann nur sprechen und ist zudem so kurzsichtig, dass er es nicht immer schafft, unfallfrei an der Klappbühne vorbeizukommen. Das ist im Übrigen nicht nur lustig, sondern auch eine plausible Erklärung dafür, dass er sich im Märchen zuerst ohne Zögern mit der falschen Prinzessin, nämlich der bösen Kammerjungfer zusammentut.

Die humoristische Anlage der Neben- bzw. Männerrollen mildert die Dramatik des Konflikts zwischen den Frauen, den erzwungenen Rollentausch von Königstochter und Kammerzofe. Theresa Dlouhy als Kammerjungfer hat Gelegenheit und nutzt sie redlich, die Bosheit ihrer Figur ins Hysterische zu übersteigern. Ihrem Koloratursopran hat die Komponistin die tiefere Mezzopartie der melancholischen Königstochter (Anna Manske) gegenübergesetzt, die Frauenrollen damit auch im Stimmtemperament deutlich voneinander abgegrenzt. (Ein markanter Unterschied zur traditionellen Oper, in der die Heldin immer Sopran ist).

Genau genommen ist es gar keine Oper, sondern ein Singspiel, das gegeben wird. Gesprochene Szenen wechseln mit Gesangspartien ab, und selbstverständlich gibt es nichts, das einer Arie ähnelt. Die Kinder haben sich nicht gelangweilt und bedanken sich am Schluss mit engagiertem Fußgetrappel. Es ist auch wirklich nicht zu lang gewesen. Auf der Website der Komponistin Iris ter Schiphorst ist die Länge der Oper mit 90 Minuten angegeben. An diesem Abend aber hat sie lediglich zweimal eine halbe Stunde gedauert. Hatte man in vorauseilendem Respekt vor dem kindlichen Null-Toleranz-Publikum wirklich ein Drittel herausgenommen? Da ist man in anderen Häusern weit weniger rücksichtsvoll. „Robin Hood“ an der Komischen Oper mutet seinem kindlichen Zielpublikum stolze 135 Minuten zu. Ab sechs Jahren, und im Übrigen ab 21. März wieder auf dem Spielplan. KATHARINA GRANZIN