Vom Glauben zum Wahn

Diskret zieht sich die Kamera zurück: In seinem bemerkenswerten Film „Requiem“ erzählt der Regisseur Hans-Christian Schmid von einer jungen Frau, die vom Teufel besessen zu sein glaubt

von CRISTINA NORD

Hoch über dem Tal spannt die Brücke. Weit streckt sie sich zwischen den Brückenköpfen. Die sind nicht zu sehen, weil der Bildausschnitt sie über seinen Rand hinaus verbannt, und auch das Tal bleibt unsichtbar, da es im Nebel versinkt. So bleibt dem Auge eine geometrische Anordnung: zwei vertikale Pfeiler, darauf die Horizontale der Straße. Drei dunkelgraue Striche vor dem milchigen Grau des Hintergrunds, drei Linien vor dem Nichts. Unterwegs auf der Brücke ist ein Reisebus; sein Ziel ist ein Wallfahrtsort jenseits der Alpen. Weil die Kamera so große Distanz zu ihm hält, wirkt seine Bewegung verlangsamt, wie die eines kriechenden Käfers.

Diese Einstellung aus „Requiem“, dem neuen Film Hans-Christian Schmids, mag nüchtern anmuten. Doch in sich birgt sie die Miniatur einer ganzen Geschichte, insofern sie von einer Passage handelt: Wenn der Bus von der einen Seite des Tals zur anderen fährt und dabei einen Abgrund überwindet, dann ist seine Bewegung verwandt mit der, die die Protagonistin des Filmes vollführt. Denn auch ihre Geschichte ist die eines Übertritts – von einer Welt, die alle bewohnen, hin zu einer Welt, die nur mehr ihr vertraut ist, von einer Existenz, in der die Gesetze der Ratio und das Regelwerk des Alltags Gültigkeit besitzen, hin zu einer Existenz, die Vernunft und Alltag trotzt, indem sie sich dem unbedingten Glauben, dem Wahn und der Besessenheit anheim gibt. So wie sich der Bus zwischen Himmel und Abgrund bewegt, so tut dies auch die Protagonistin der Geschichte – mit einem Unterschied: Der Bus erreicht die andere Seite, das sichere Terrain. Für die Heldin ist die andere Seite gleichbedeutend mit dem Abgrund.

„Requiem“ erzählt von einer jungen Frau namens Michaela Klingler. Sie stammt aus einem ländlichen, frommen Milieu, der Vater ist Handwerker, die Mutter Hausfrau. Sie leidet an Anfällen, die die Ärzte als Epilepsie diagnostizieren. Als Michaela die Nachricht erhält, zum Studium zugelassen zu sein, fragt die Mutter ohne jede Spur von Empathie: „Wie stellst du dir das vor, mit deiner Sache?“ Es sind die frühen 70er-Jahre; wer nicht in der Lage ist, den Konformitätsansprüchen zu genügen, der geht besser gar nicht erst vor die Haustür. Trotzdem zieht Michaela vom Dorf nach Tübingen, trotzdem nimmt sie das Studium auf, trotzdem steigert sie sich beim Tanzen auf einer Studentenparty in eine blau getönte Verzückung. Als sie mit roten Stiefeln nach Hause kommt, zu Weihnachten, ist es wieder die Mutter, die mit Argwohn reagiert: „Findest du, das passt zu dir?“ Es dauert nicht lange, und die Stiefel liegen in der Mülltonne. Michaela sabotiert daraufhin die Mitternachtsmesse.

Zugleich bringt sie der Aufbruch aus dem Takt. In Tübingen verschlechtert sich ihr Zustand, sie beginnt, Stimmen zu hören, sie empfindet eine rätselhafte Abneigung gegen das Kreuz an der Wand und den Rosenkranz in ihrer Hand, sie meint schließlich, vom Teufel besessen zu sein. Den Brief, in dem ein Arzt die Möglichkeit einer Psychose erwägt, nimmt sie nicht zur Kenntnis; es bleibt einer Kommilitonin überlassen, ihn zu lesen – zu spät jedoch, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Denn Michaela sieht schon keinen Ausweg mehr außer den, sich einem Exorzismus zu unterziehen.

„Requiem“ geht auf einen tatsächliche Begebenheit zurück, auf den Fall der Anneliese Michel aus Unterfranken, die am 1. Juli 1976 starb, nachdem sie eine mehrmonatige Serie von Exorzismen an ihr verübt worden war – mit Billigung des Würzburger Bischofs. „Requiem“ erzählt diese das Maß sprengende Geschichte mit großer Zurückhaltung. Hans-Christian Schmids Film geht sparsam mit dem Toben und Wüten der Protagonistin um, er bezieht seine Eindringlichkeit niemals aus Versatzstücken, die einschlägigen Horrorfilmen entlehnt sein könnten, obwohl eine solche Leihnahme angesichts des Sujets nahe läge. Eindringlich ist „Requiem“ vielmehr deshalb, weil er mit Szenen wie derjenigen arbeitet, in der Michaela das Kreuz in ihrem Wohnheimzimmer berühren möchte und sich ihre Finger in der Luft krümmen, als stießen sie gegen ein unsichtbares Hindernis. Sie sind außerstande, die letzten 20 Zentimeter bis zum Kruzifix zu überwinden. Sandra Hüller, die Darstellerin der Michaela, schöpft große Intensität aus solchen Gesten und Bewegungen. Sie unterspielt eher, als dass sie mit Nachdruck auf die Verwirrung ihrer Figur verwiese. Das ist eine bewundernswerte Leistung – ebenso wie die des Szenenbildners Christian M. Goldbeck, der die 70er-Jahre nachbildet, ohne dass das Zeitkolorit sich je in den Vordergrund drängte. Und gegen Ende des Filmes, wenn der erste Exorzismus im Wohnzimmer der Eltern einsetzt, fährt die Kamera durch die Zimmertür zurück in den Flur – in einer Bewegung, die so diskret ist, dass man in Versuchung gerät, die Auflösung der Szene als elegant zu beschreiben, obwohl das Sujet die Möglichkeit von Eleganz ausstreicht.

Nun gibt es Filme, die dem bedingungslosen Glauben ihrer Figuren so weit nachgeben, dass sie sich selbst damit voll saugen. Am Ende von Carl Theodor Dreyers „Opfer“ (1955) geschieht dies: Eine eben im Kindsbett Verstorbene wird von ihrem Schwager, dem der Glauben zum Wahn geworden ist, zum Leben erweckt. Wie sie sich langsam vom Totenbett erhebt, ist ein so einprägsamer Augenblick der Filmgeschichte, dass noch der größte Skeptiker zumindest an ein Kinowunder zu glauben beginnt. Aus gutem Grund geht Schmid diesen Weg nicht.

Mit dem tragischen Fall der Anneliese Michel im Hintergrund wäre es wohl eine falsche Entscheidung, sich zum Advokaten der irrational-wahnhaften Erfahrung zu machen. Trotzdem geht der Film diesen Weg ein Stück, da er sich an die Perspektive der Hauptfigur anschmiegt. Manchmal fragt man sich, ob sich die Balance zwischen diesen beiden Polen, zwischen dem Glauben und der Skepsis, dem Wahn und der Ratio, so etablieren lässt, wie „Requiem“ es tut. Nicht im Sinne einer Kritik, sondern als eine Überlegung, die kein Film abschließend beantworten könnte.

„Requiem“. Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Sandra Hüller, Imogen Kogge u. a. Deutschland 2006, 93 Min.