: Die Angst bleibt draußen
AUS BIELEFELD GESA SCHÖLGENS
„Wir sind da“, brummt der Busfahrer und bedeutet den Fahrgästen, auszusteigen. Autos rasen vorbei. Am Straßenrand eine Tankstelle, daneben ein Kiosk. Hier, zehn Minuten vom Bielefelder Bahnhof entfernt, liegt im Stadtteil Gadderbaum die Ortschaft Bethel: das „Haus Gottes“.
Auf dem weitläufigen Areal der „v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel“ haben rund 8.000 Bewohner alles, was sie zum Leben brauchen: Geschäfte, Schulen, Krankenhäuser, eine Tischlerei, eine Kirche und sogar einen eigenen Reiterhof. Manche Menschen kommen schon in jungen Jahren hierher, weil ihre Eltern mit der Pflege überfordert sind. Oder weil es ihnen körperlich und psychisch schlecht geht.
Mitten in Bethel, zwischen schmucken Altbauten und modernen Häuserblocks, liegt die Handweberei, eine der vielen Werkstätten. Dort arbeitet Stephanie Güttner. „Draußen komme ich nicht so gut zurecht, mein Orientierungssinn ist nicht so gut“, sagt sie. Draußen, das bedeutet „außerhalb Bethels“. Die junge Frau ist leicht geistig beeinträchtigt. Täglich sitzt sie am Webstuhl und fertigt aus Fäden farbenfrohe Stoffe, die dann nebenan in der Näherei zu Kleidung oder Decken verarbeitet werden. Die Arbeit macht Stephanie Güttner Spaß, sie fühlt sich wohl in der Gemeinschaft. „In Bethel kann ich überall zu Fuß hingehen.“ Um 16 Uhr sei heute Feierabend. Dann gehe sie zur Rückengymnastik. Abends stehe Kegeln auf dem Programm, manchmal ein Besuch in der Pizzeria. „Ganz normal“, meint Stefanie, und ihre großen Augen hinter den dicken Brillengläsern strahlen.
Für die behinderten Menschen sei die Arbeit sehr wichtig, sagt Cornelia Krüger-Schütte, die Leiterin der Handweberei. „Es gibt ihnen Selbstvertrauen.“ Auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten die meisten von ihnen keine Chance. Das Tempo ist zu schnell, sie brauchen öfter Pausen als Gesunde. In den Werkstätten in Bethel arbeiten rund 1.800 Menschen, jede und jeder soll einer Arbeit nachgehen, die ihren oder seinen Fähigkeiten entspricht. Das hatte auch Friedrich von Bodelschwingh im Sinn, als er die Leitung der Anstalten übernahm.
Mit einem pleite gegangenen Bauernhof fing alles an. Dort zogen 1867 die ersten „Pfleglinge“ ein: junge Männer, die an Epilepsie litten. Das weiß getünchte Fachwerkhaus mit den niedrigen Decken ist heute ein Museum. Wie alle Einrichtungen in Bethel trägt das Haus einen biblischen Namen: Ebenezer.
Christliche Vision
Das Museum wird von der Historikerin Bärbel Bitter betreut. Die energische Frau mit dem Kurzhaarschnitt erklärt wort- und gestenreich, was von Bodelschwingh antrieb, der vor 175 Jahren – am 6. März 1831 – geboren wurde und 1872 die Leitung in Bethel übernahm. „Er wollte einen Lebensraum schaffen, in dem alle Menschen einen Platz haben.“ Um seine Vision zu verwirklichen, vergrößerte der Theologe und Sozialreformer Stück für Stück das Areal der Anstalten. Der „kluge Ökonom“ (Bitter) kaufte Land und sammelte Spenden. Dabei wurde die „Brockensammlung“ für alte Kleidung und Möbel ins Leben gerufen, die noch heute als Second-Hand-Laden in Bethel existiert.
Während in anderen Häusern jüngere Menschen, je nach Grad ihrer Behinderung, auch in eigenen Wohnungen leben, wohnen im Haus Bethabara hauptsächlich ältere geistig Behinderte. Ein hellgelb gestrichener Flur. Eine alte Frau schiebt schwerfällig ihren Rollator durch den Gang. Im Fernsehraum schaut ein Rentner einen Film über Schimpansen. Am Flurende liegt das Zimmer von Ruth Köhler. Die Luft riecht ein wenig verbraucht. Neben dem ordentlich gemachten Bett steht auf dem Nachttisch ein Radio und dudelt Schlagermusik. Ruth Köhler zeigt ihr Bad, das sie mit der Zimmernachbarin teilt, und die Küchenzeile. „Hier esse ich Abendbrot“, erklärt sie.
In der „Neuen Schmiede“ geht es heute Nachmittag eher ruhig zu. Mario Wolters zapft hinter dem Tresen ein Bier, während seine Kollegin Angelika Schmieder Kaffee für die Gäste kocht. Auf den ersten Blick sieht man beiden die schwere Krankheit nicht an. Angelika ist schon als kleines Kind an Epilepsie erkrankt. Sie bekommt heftige Anfälle, verliert häufig das Bewusstsein. „Nach einem schweren Anfall war ich einige Tage gelähmt. Im rechten Arm habe ich seitdem keine Feinmotorik mehr.“ Beim Gehen zieht sie das rechte Bein ein bisschen nach. Die 52-Jährige mit den kurzen grauen Haaren hat vor über 20 Jahren entschieden, nach Bethel zu ziehen. „Ich wollte meinen Geschwistern nicht zumuten, dass sie sich um mich kümmern müssen“, sagt sie ernst. Wegen der Anfälle, die meist ohne Ankündigung kamen, fand sie „draußen“ keine Arbeit, lebte von Sozialhilfe. Heute wohnt sie in einer WG mit einem Freund zusammen. „Wir passen auf einander auf“, erzählt Angelika verschmitzt. Als Kind wurde sie oft gehänselt. „Zu meinem Bruder sagten sie, ‚du bist doch der mit der doofen Schwester‘.“ In Bethel hingegen fühlt sie sich akzeptiert. „Außerhalb ist es mir nicht möglich, so zu leben, wie ich es hier kann.“
„Gucken, wie wir leben“
Außerhalb, innerhalb, drinnen, draußen. Das sind Worte, die man von Bethel-Bewohnern häufig hört. Auch Mario Wolters wohnt „drinnen“ – mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Mario bekam die ersten epileptischen Anfälle mit 16 Jahren. „Ich habe zuerst eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker angefangen, aber dann abgebrochen.“ Der 32-Jährige versuchte es in anderen Berufen, vergeblich. Bis er von Bethel hörte. „Hierher zu kommen, hat mich sehr verändert“, sagt der schlanke, groß gewachsene Mann. Im Berufsbildungszentrum durfte er verschiedene Praktika machen, bis er sich für die Gastronomie entschied. „Tägliche Anfälle waren dort ganz normal. So gut wie alle hatten welche.“ Zum ersten Mal in seinem Leben war Mario selbständig und lernte, mit seiner Krankheit umzugehen. „Vor dem alleine Wohnen hatte ich erst Angst. Aber die ambulante Betreuung hat mir sehr dabei geholfen.“ Täglich kamen Mitarbeiter vorbei und halfen bei Besorgungen.
Wenn es Mario heute mal nicht gut geht, kann er bei der Arbeit ohne weiteres kürzer treten. „Manche Leute haben schon Vorurteile, auch gegen Bethel“, sagt der Kellner. „Aber die sollten einfach mal hierher kommen und gucken, wie wir leben.“ Für die Menschen in Bethel steht fest: Sie sind hier, weil es ihnen „drinnen“ besser geht als „draußen“.