: Sündenbock und Projektionsfläche
Die Wertschätzung zu Hause und im Ausland könnte nicht gegensätzlicher sein: Nur drei Prozent der Russen sehen die Figur Gorbatschows positiv. 47 Prozent hingegen bewerten die Rolle des sowjetischen Diktators Stalin wohlwollend
Aus MoskauKlaus-Helge Donath
Kein Festbankett, keine offiziellen Ehrungen. Michail Gorbatschow beging den 75. Geburtstag daheim in aller Stille und trautem Freundeskreis. Russland tut sich noch immer schwer mit dem ehemaligen KPdSU-Generalsekretär, der vor 21 Jahren mit den Schlagworten Uskorenije (Beschleunigung), Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) der siechenden Supermacht Sowjetunion eine Reformkur verordnete.
Vor fünf Jahren, gerade frisch im Amt, bedachte Russlands Präsident, Wladimir Putin, den glücklosen Vorgänger noch mit einem Transparent über der Kremleinfahrt: „Herzlichen Glückwunsch, Michail Sergejewitsch !“ und lud zum Empfang in den Kreml. Die internationale Wertschätzung des Nobelpreisträgers hoffte sich der Neue damals noch zunutze machen zu können. Dies hat er nun nicht mehr nötig. Stattdessen ließ eine dem Kreml nahestehende Nachrichtenagentur vermelden, Dreiviertel der Bürger hielten Russlands ersten Präsidenten weder für eine herausragende politische Figur des 20. Jahrhunderts, noch habe er sich um sein Land verdient gemacht. Russlands gleichgeschaltete Medien erwiesen dem Jubilar denn auch nur beiläufig Reverenz.
Die Wertschätzung zu Hause und im Ausland könnte nicht gegensätzlicher sein. Hier der Befreier vom kommunistischen Joch und Liquidator des Ost-West-Gegensatzes, dort Sündenbock und Projektionsfläche unaufgearbeiteter hausgemachter Unzulänglichkeiten. Nur drei Prozent der Russen sehen in einer Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungsinstituts die Figur Gorbatschows positiv. 27 Prozent konnten immerhin der Perestroika etwas Positives abgewinnen – gleichwohl wenig im Vergleich zu den 47 Prozent, die in einer ähnlichen Umfrage die Rolle Stalins wohlwollend bewerteten.
Ein nachhaltiger Mentalitätswandel steht somit noch aus. Lediglich zwei Jahre – von 1985 bis 1987 – hielt die Liaison des Bürgers mit dem Generalsekretär. Vor allem die Aufhebung der Zensur in den Medien wurde ihm hoch angerechnet. Ansonsten erwies sich Gorbatschow eher als Cunctator denn als zupackender Reformator. Den Umbau im Inneren ging er nur zögerlich an. Denn es fehlte ein Konzept, wie das marode System modernisiert werden sollte. Der Generalsekretär hatte nicht die Demontage des Sozialismus oder die Übernahme des westlich kapitalistischen Modells im Sinn. Im Gegenteil, er wollte zurück zu den Wurzeln des „wahren“ Leninismus, diese aber mit Demokratie anreichern. Schließlich hatte der kleine Junge aus bescheidenen provinziellen Verhältnissen der KPdSU die Karriere zu verdanken.
Nach der Öffnung des Ventils des Totalitarismus vollzog sich die Geschichte – ganz im Einklang mit den Klassikern des Marxismus – „hinter dem Rücken der Akteure“ und nicht, wie von ihnen beabsichtigt. Dass die sozialistische Mangelwirtschaft der Vorjahre in der Perestroika noch übertroffen wurde, lasteten die Bürger Gorbatschow an, der mit den konservativen Kräften der Partei nicht brechen wollte. Vielmehr ruderte er zurück und hievte schließlich orthodoxe Betonköpfe in die Verantwortung, die im August 1991 putschten und seiner politischen Laufbahn ein jähes Ende bereiteten.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums folgte auf dem Fuße. Viele Russen, deren Selbstwertgefühl mit Größe und Macht des Reiches verknüpft ist, haben diesen traumatischen Verlust bis heute nicht verwunden.