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Archiv-Artikel

Einer, der lieber übertreibt

Es gibt unter Europas Juden – den Überlebenden des Holocaust und ihren Kindern – ein Gefühl des Bedrohtseins, das sich auch dann nur ausnahmsweise verflüchtigt, wenn es für dieses Bedrohtsein keinerlei Indizien gibt, und das von entsetzlicher Präsenz ist, wenn es dafür Indizien gibt.

Leon de Winter, Nachkomme einer vielköpfigen Familie, von der nur sein Vater, seine Mutter und eine Verwandte, Tante Saartje, überlebten, hat das so beschrieben: Er müsse die Welt durch die Augen seiner Mutter sehen. „Ich blicke durch Augen, die nicht die meinen sind. Aber ich kann nichts anderes als schuldige Landschaften und schuldige Städte sehen.“ Er habe die Trauerarbeit um die ermordeten Verwandten „von meiner Mutter übernommen, und vielleicht könnte mich ein guter Psychiater ein wenig davon befreien, aber ich weiß eigentlich nicht, ob ich mir diese Gefühle überhaupt nehmen lassen möchte. (…) Ich kann den Skandal ihres Todes bis heute nicht begreifen.“

Aber wenn man ihn auch nicht begreifen kann, so ist dieser Tod doch ein Beweis für eines: „Das Böse existiert.“ Es kann jederzeit seine schreckliche Blutspur ziehen. „Manche sagen, ich übertreibe. Aber ich übertreibe lieber als zu unterschätzen.“ Dafür wurde de Winter gestern in Berlin mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet, die die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit anlässlich der Woche der Brüderlichkeit vergibt. Dabei sind die Einlassungen des 51-jährigen Schriftstellers nicht unumstritten.

Gegen den Islamismus, im Grunde freilich gegen die in seinen Augen sich in Parallelgesellschaften verpuppenden muslimischen Migranten-Communities schreibt de Winter mit einer Verve an, die mitunter den schmalen Grat, der den Warnruf von der rassistischen Hetze trennt, überschreitet. Dann zieht er gegen die „falsche Toleranz“ vom Leder, fordert, die „multikulturelle Senkgrube“ auszuheben, wütet gegen anatolische oder arabische Brautleute, die nach Westeuropa kommen, „türkisch oder arabisch gefasste Formulare ausfüllen, um Sozialhilfe zu beantragen und danach in ihrem eigenen subventionierten Ghetto verschwinden“.

Leon de Winter ist einer der einflussreichsten islamophoben (und neokonservativen) Autoren Europas. Man kann das durch das Gefühl von Bedrohtheit erklären. Man muss dafür Verständnis aufbringen. Man kann aber auch darauf hinweisen, dass die große Mehrheit jener, die diese Bedrohtheit ebenso verspüren, nicht zu denselben Formulierungen greifen. Man kann sich fragen, ob es eine gute Idee ist, einem Autor, der Sätze schreibt wie de Winter, einen Anti-Rassismus-Preis zu verleihen. ROBERT MISIK